Vorwort zum Amtsbericht 2000 der
Evang.-ref. Kirche des
Kantons St. Gallen, Februar 2001
Pfr. Dr. Dölf Weder, Kirchenratspräsident
Was ist mir
wirklich wichtig an unserer Kirche?
„Zeichnet mit diesen Filzstiften auf einem Flip-Chart
Blatt auf einfache Weise, wie unsere Kirche im Jahr 2010 aussehen soll –
meine Vision der St. Galler Kirche!“ Mit dieser Aufgabe konfrontiert
sahen sich im vergangenen Jahr Kirchenräte, Präsidentinnen und
Präsidenten von Kirchenvorsteherschaften, kantonalkirchlich
Mitarbeitende sowie Mitglieder verschiedener anderer Gruppierungen
anlässlich unserer Retraiten und Workshops. Es tut gut, sich immer mal
wieder zu fragen: „Was ist mir denn wirklich wichtig an unserer Kirche?
Worum geht es eigentlich?“ Nur allzu leicht verlaufen wir uns sonst in
der Fülle der kirchlichen Aufgaben und Alltagsgeschäfte, arbeiten und
diskutieren, machen unbemerkt die Mittel zu Zielen und verlieren leicht
das wirkliche Ziel aus den Augen – so wie es einst Mark Twain von Tom
Sawyer’s und Huckleberry Finn’s Ausflug auf dem Mississippi berichtete:
„Als sie das Ziel aus den Augen verloren hatten, verdoppelten sie die
Anstrengungen.“
Einfaches Reden und
glaubwürdiges Handeln
Zu noch etwas fordert diese einfache Übung heraus: Wie
kann ich etwas, das mir vielleicht theologisch klar und emotional wichtig
ist, zu dessen Beschreibung ich aber möglicherweise viele differenzierte
Sätze brauche, mit wenigen Strichen in einer Zeichnung darstellen? Diese
wird ja – nicht zuletzt auch wegen meiner zeichnerischen Beschränkungen –
so wenig von dem zeigen, was wirklich in mir lebt, was mich wirklich
ganzheitlich engagiert. Und doch: Ist das nicht auch unsere Wirklichkeit
in einer Welt, in der es wohl immer mehr darum geht, den christlichen
Glauben auch im Alltag, in einer konkreten Situation, mit ganz wenigen
Worten oder Handlungen auf glaubhafte Weise zu bezeugen? Oder unseren
Mitmenschen dieses Zeugnis eben schuldig zu bleiben. Mir ist Jesus auch in
dieser Beziehung ein grosses Vorbild. Mit einem kurzen Bildwort oder einem
prägnanten Satz hat er oft in eine konkrete menschliche Situation hinein
gesprochen und diese Situation auf einen liebenden, Vergebung und Leben
schenkenden Gott hin durchsichtig gemacht. Durch einfaches Reden und
glaubwürdiges Handeln für Menschen das heutige Leben auf Gott und die
Liebe hin durchsichtig zu machen, wird sicher auch noch im Jahr 2010 zu
unseren wichtigsten Aufgaben gehören.
Kirche
mit Beinen
Das auf diese Weise entstandene Flip-Chart Bild, das
mich am meisten beeindruckte, hat Markus Bernet, unser Kirchenschreiber
geschaffen. Er zeichnete eine Kirche mit Beinen, mit vier grossen Beinen.
An der „Vernissage“ erläuterte er, dass die Kirche zu den Menschen hin
gehen muss, ihnen nahe sein, mit ihnen unterwegs sein soll, heute noch
vermehrt. Also nicht eine Kirche, welche die Leute aus der Distanz mit
raffinierten PR-Methoden zu ihren Veranstaltungen zu locken oder zu
belehren versucht, sondern eine Kirche, die zu den Menschen hin geht, sie
zu Hause, in ihrem all-täglichen Umfeld, in Lebensübergängen, in Freud und
Leid und in allen Phasen dazwischen ernst nimmt und auf ehrliche und
offene Weise begleitet, sie damit auch immer wieder zur Teilhabe an der
weltweiten Gemeinschaft mit Gott und seiner Gemeinde einlädt. Für mich ist
ein wichtiges Indiz für eine solche Erwartung der Menschen, dass die von
mir im letzten Jahr am häufigsten gehörte Kritik von Gemeindegliedern an
der Kirche lautet: „Es hat mich nie jemand von der Kirche besucht, nie
jemand Interesse an mir gezeigt!“. Kirchliche Verantwortungsträger
kritisieren demgegenüber häufig das angeblich fehlende Interesse der Leute
an den Anliegen der Kirche. Wahrscheinlich gehören die Hausbesuche halt
auch heute noch zu den wichtigsten kirchlichen Tätigkeiten, obwohl sie
vielfach allen möglichen anderen Aktivitäten zum Opfer fallen. Wir
brauchen Begegnungen von Angesicht zu Angesicht, „kirchlich Mitarbeitende
zum Anfassen“.
Begleitende Kirche – Gemeinschaft vielfältiger Weggemeinschaften
„Kirche mit Beinen“ trifft sehr viel von dem, was auch
mir an Kirche wichtig ist. Kirche als das wandernde Gottesvolk. Zu
einander hin gehen, aufeinander zu gehen, einander begegnen. Miteinander
unterwegs sein auf Gottes Reich, auf Gottes neue Welt hin. Einander als
selbstverantwortliche („selber denken“) und wahlfreie Menschen anerkennen
und begleiten. Vielfältige Weggemeinschaften bilden, kurz- und
längerfristige, auch bloss punktuelle. Und darum wissen, dass alle diese
vielfältigen Weggemeinschaften Teil eines Ganzen sind – Teil des
weltweiten, des universalen Leibes Christi. Unauflöslich verbunden
miteinander, mit Gott, mit Jesus Christus, im Heiligen Geist.
[Ergebnisse der erwähnten Workshops im Rahmen des
Prozesses St. Galler Kirche 2010 finden sich im Papier "St.
Galler Kirche 2010"]