Vorwort zum Amtsbericht 2003 der
Evang.-ref. Kirche des
Kantons St. Gallen, Februar 2004
Pfr. Dr. Dölf Weder, Kirchenratspräsident
Kanton St. Gallen und
Kantonalkirche feierten ihr 200-Jahr-Jubiläum
Das Jahr 2003 war geprägt vom gleichzeitigen 200-Jahr
Jubiläum des Kantons St. Gallen und der Evangelisch-reformierten Kirche
des Kantons St. Gallen. Mit einer Vielzahl von kreativen Projekten
gelang es, sämtliche Kirchgemeinden und viele Gemeindeglieder in die
Jubiläumsaktionen einzubeziehen. Ein spezieller Bericht und drei
eindrückliche Segensbücher legen davon Zeugnis ab.
Das gleichzeitige Jubiläum von Kanton und Kantonalkirche hat animiert,
neu über das Verhältnis von Kirche und Staat und über die Rolle, die wir
als Kirche in der heutigen Gesellschaft spielen, nachzudenken.
Eindrücklich war diesbezüglich die wegen der vielen Teilnehmenden
zweimal gehaltene Eröffnung des Kantonsjubiläums in der Kathedrale vom
15. April 2003. In ihr wurde die geschichtliche, kulturelle und ideelle
Verbindung von Kirche und Staat besonders deutlich. Neben Ludwig van
Beethovens Oratorium „Jesus am Ölberg“ und einem gemeinsamen Wort, Psalm
und Gebet von katholischem Bischof und reformiertem
Kirchenratspräsidenten beeindruckte das Bekenntnis von Vertreterinnen
und Vertretern anderer Religionen zu einer gemeinsamen, friedvollen
Gestaltung unserer Zukunft.
Kirche und Staat – aufeinander
bezogen und aufeinander angewiesen
Das St. Galler Staatswesen hat sich mit Aufklärung,
Französischer Revolution und Kantonsgründung von der Bevormundung durch
die Kirchen befreit. Es war, wie der Philosoph Emmanuel Kant die
Aufklärung definierte, „der Ausgang des Menschen aus seiner selbst
verschuldeten Unmündigkeit“. Und trotzdem blieben Staat und Kirche
bis heute aufeinander bezogen und aufeinander angewiesen.
Am 15. April 1803 war die erste Kantonsregierung unter dem Vorsitz von
Karl Müller-Friedberg gewählt worden. Bloss sechs Tage später richtete
der evangelische St. Galler Dekan Pfr. Peter Stähelin an den neu
gewählten Rat das Gesuch um eine gesetzliche Regelung des Kirchenwesens.
Nach zwei Monaten bereits, am 29. Juni 1803, beschloss der Grosse Rat
auf Antrag der Regierung ein Kirchengesetz, das in weiten Teilen Pfr.
Stähelins Vorschlägen folgte. Am 19. und 20. September 1803 versammelte
sich die erste kantonale Synode. Sie bedeutete die Gründung der
Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons St. Gallen.
Auch heute noch von Wichtigkeit ist die Präambel zu diesem Gesetz,
verfasst vom Regierungsrat, beschlossen vom Grossen Rat:
„Die Regierungs-Räthe des Kantons St. Gallen.
In Beherzigung, dass die religiose und sittliche Bildung des Volkes das
Glük des Staates befestnet;
Dass es daher die heiligste Pflicht jeder Regierung ist,
die Verbesserung dieses wohlthätigen Zustandes mit bestrebendem Eifer zu
bewirken …
Schlagen vor als Gesetz: …“
Wir finden hier eine tiefe Überzeugung unserer
Kantonsgründer. Karl Müller-Friedberg, wie auch die meisten anderen
damals führenden Staatsmänner im Kanton, waren Katholiken. Aber sie
waren vom Geist der Aufklärung beseelt. Aus ihm heraus gestalteten sie
den jungen Staat. Mit dem gleichen aufgeklärten Denken wollten sie auch
in der Kirche einen Reformprozess auslösen. Wir verdanken dem Denken
dieser Männer unter anderem, dass wir uns heute im Kanton St. Gallen
nicht wie in anderen Kantonen mit dem problematischen Erbe eines
Staatskirchentums auseinander setzen müssen. Die Kirchen sind bei uns im
Rahmen demokratischer Spielregeln weitgehend selbständig. So will es
auch die neue Kantonsverfassung.
Bildung in Religion und Ethik
zum Wohl des Staates
Unsere Kantonsgründer waren überzeugt, dass das Glück
des Staates religiöse und sittliche Bildung des Volkes voraussetzt. Als
geeignetste Institutionen, solche Bildung zu befördern, sahen sie die
beiden Kirchen. Die ihnen von der Regierung zugedachte Rolle wurde
bestätigt durch den Titel der Rede, welche der regierungsrätliche
Kanzleidirektor Julius Hieronymos Zollikofer als Vertreter der Regierung
am 20. September 1803 vor der ersten Synode unserer Kantonalkirche im
St. Galler Rathaus hielt. Sie trug den programmatischen Titel „Rede
über den Einfluss der Religion und Sittlichkeit auf das allgemeine Wohl“.
Bildung in Religion und Ethik als Voraussetzung für das öffentliche
Wohl. Wie weit gilt das heute noch?
Man erinnert sich an die Debatten vom letzten Jahr im Kantonsrat. Da
wurde gefordert, den Mittelschulunterricht in Religion und Ethik
abzuschaffen. Das geschah dann glücklicherweise nicht. Aber eine Kürzung
ist immer noch wahrscheinlich. Dass gelegentlich selbst Kirchgemeinden
beider Konfessionen ihre Verpflichtung zum vollumfänglichen und
qualifizierten Erteilen des im staatlichen Lehrplan vorgesehenen
Religionsunterrichts an den Volksschulen nicht genügend ernst nehmen,
sei hier nicht verschwiegen. Die Kirchen haben in den letzten
Jahrzehnten an gesellschaftlichem Einfluss eingebüsst, das spiegelt sich
nicht nur in Kirchenaustritten und im Gottesdienstbesuch, sondern eben
auch in solchen Debatten und Entscheiden. Im Hintergrund stehen – wie
hinter vielen anderen Entwicklungen – ein Traditionsabbruch sowie eine
zunehmende Individualisierung und Materialisierung unserer Gesellschaft,
inbegriffen die Maximierung des eigenen Vorteils, ein gewisser Mangel an
Verbindlichkeit und der Bedeutungsverlust des Einsatzes für das
Gemeinwesen.
Wache und nachdenkende Menschen wissen aber, dass eine Gesellschaft
einen gemeinsamen Bestand an Grundwerten und Grundüberzeugungen haben
muss, soll sie nicht in Desintegration und schleichende Auflösung
geraten. Es braucht zudem Orte, wo miteinander darüber nachgedacht und
diskutiert wird. Regierungspräsident Hans-Ulrich Stöckling hat das in
seiner Gratulationsadresse an der Jubiläumsfeier der Kantonalkirche vom
1. Dezember 2003 in der St. Laurenzenkirche deutlich formuliert und den
Beitrag der Kirchen gewürdigt.
Werte und Überzeugungen in den
gesellschaftlichen Diskurs einbringen
Kirchen können heute solche Werte und Überzeugungen
nicht mehr einfach autoritär behaupten und gesellschaftlich
durchzusetzen versuchen. Aber wir können – und wir wollen – sie gerade
auch heute in den gesellschaftlichen Diskurs einbringen – deutlich und
hörbar, aber als eine Stimme unter vielen. Persönlich bin ich dabei
überzeugt: Wahrheit wird sich letztlich als Wahrheit erweisen. In diesem
Sinn hat die Vorstellung unserer Kantonsgründer, dass die Kirchen in der
Gesellschaft – neben dem Angebot von Christus- und Glaubensgemeinschaft
– die wichtige Funktion haben, religiöse und sittliche Bildung zu
betreiben, auch heute noch ihre Berechtigung.
Im Rahmen unseres Prozesses St. Galler
Kirche 2010 haben wir uns als Leitwort gegeben, eine Kirche „nahe
bei Gott – nahe bei den Menschen“ zu sein. Das schliesst eine klare
Identität als christliche Gemeinde ein. Es geht um Gott, um Glauben, um
Christusgemeinschaft. Aber damit geht es gleichzeitig auch um Nähe zu
uns Menschen von heute. Darum, in mannigfachen Weggemeinschaften
miteinander unterwegs zu sein in einer modernen Welt und Gesellschaft.
So lasst uns denn miteinander, mit klarer christlicher Identität und am
Gemeinwohl orientiert unterwegs bleiben. Zum Wohle der Menschen hier im
Kanton und in der Welt. Begleitet vom Segen Gottes.