Vorwort zum Amtsbericht 2004 der
Evang.-ref. Kirche des
Kantons St. Gallen, März 2005
Pfr. Dr. Dölf Weder, Kirchenratspräsident
Die Wertediskussion in
der Schweiz ist neu lanciert
Unser Auftrag als Volkskirche,
„nahe
bei Gott – nahe bei den Menschen“, bezieht sich sowohl auf das
Glaubensleben der Menschen als auch auf die Gestaltung des
gesellschaftlichen Alltags. Wir wissen, dass jede Gesellschaft dringend
angewiesen ist auf gemeinsame Grundsätze, auf Werte und Normen, die von
allen ihren Mitgliedern getragen sind. Gerade als reformierte Christen
wollen und müssen wir sie wirksam mitgestalten.
Das Jahr 2004 zeigte, dass die Wertediskussion in der
Schweiz neu lanciert ist. Noch nicht alle erkennen sie als
Wertediskussion. Die einen sehen sie bloss als Entscheide in einzelnen
Sachfragen oder bei Businessangelegenheiten. Andere glauben, die
entscheidenden Verwerfungen verliefen zwischen dem christlichen Glauben
und anderen Weltreligionen, namentlich dem Islam; Kampf der Religionen und
Kulturen also. Was sind aktuelle Themen, bei denen es um elementare
Grundwerte unseres Lebens und unserer Gesellschaft geht? Um Werte, die der
christliche Glaube massgeblich mitgeprägt hat und weiter mitprägen will?
Solidarität auf der einen
Seite, Ausgrenzung auf der anderen
Die Flutwellenkatastrophe in Asien,
der Tsunami, hat Ende Jahr eine riesige Hilfsbereitschaft ausgelöst.
Schweizerinnen und Schweizer haben weltweit pro Kopf am meisten gespendet.
St. Galler Regierung, Kantonalkirche und Kirchgemeinden haben sich
massgeblich beteiligt. Ein eindrückliches Beispiel des Gewichtes der Werte
Solidarität und Mitmenschlichkeit in unserer Gesellschaft.
Nur einige Monate zuvor, im September
2004, waren vom Stimmvolk zwei Einbürgerungsvorlagen, darunter auch jene
zugunsten von bereits in zweiter und dritter Generation hier lebenden
Jungen, bachab geschickt worden – mit besonders deutlichen Mehrheiten im
Kanton St. Gallen. Der Kirchenrat hatte sich im Rahmen seines Engagements
für gesellschaftliche Integration befürwortend eingesetzt.
Kurz darauf, im November 2004, drückte
der Rat in einem Pressecommuniqué seine tiefe Besorgnis aus über die
Neuregelung, dass Asylsuchende mit Nichteintretensentscheid kein Anrecht
auf Sozialhilfeleistungen mehr haben und stattdessen im Status von illegal
Anwesenden auf die Strasse gezwungen werden. Er warnte vor den zunehmend
sichtbar werdenden Konsequenzen in menschlicher und gesellschaftlicher
Hinsicht.
In der Folge erwies sich, dass
verschiedene St. Galler Gemeinden in einer ersten Phase diesen Menschen
selbst die verfassungsmässig garantierte Nothilfe verweigerten. Kirchliche
Kreise und ein Solidaritätsnetz wurden in Form von praktischer
Überlebenshilfe und politischen Aktionen auf eindrückliche Weise aktiv.
Indessen beantragte die Staatspolitische Kommission des Ständerates,
bisherige Beschlüsse von Bundesrat und Nationalrat deutlich verschärfend,
unter anderem, den Sozialhilfestopp künftig auch auf im ordentlichen
Asylverfahren Abgelehnte auszudehnen, schutzbedürftige Personen wie
Frauen, Kinder, Jugendliche und alte Menschen inbegriffen. Als Folge
würden allein im Kanton St. Gallen mehrere hundert Menschen als illegal
Anwesende auf die Strasse gestellt – samt dem Recht, ihnen auch die in
Artikel 12 der Bundesverfassung garantierte Nothilfe vorzuenthalten. Der
Ständerat folgte am 17. März 2005 seiner vorberatenden Kommission. Der
Entscheid des Nationalrates steht noch aus.
Weitere die Öffentlichkeit
beschäftigende Themen, hinter denen fundamentale Wertentscheide stehen,
sind die sich zunehmend öffnende Schere zwischen exzessiven Manager- und
Verwaltungsratslöhnen auf der einen und neuer Armut, unter anderem mit
Armutsrisiko „Kinder“, auf der anderen Seite. Oder die Pressekontroverse
um einen Walliser Nationalrat, der im Zusammenhang mit einer
ausländerfeindlichen Plakataktion die Aussage gemacht haben soll: „Eine
schön präsentierte Lüge ist besser als eine schlecht formulierte
Wahrheit.“ Oder die illegale Beschäftigung von ausländischen
Hausangestellten und landwirtschaftlichen Hilfskräften samt deren
Konsequenzen in der Sans Papiers Diskussion. Nicht zu vergessen sind auch
die dramatisch ansteigenden Fälle von aggressiver Gewaltanwendung und
Kriminalität, oder Autoraser, die wissentlich das Sterben Unschuldiger in
Kauf nehmen.
Man mag zu diesen Themen im Einzelnen
stehen wie man will. Hinter all den unterschiedlichen Erscheinungen stehen
letztlich bewusste oder unbewusste ethische Grundwerturteile und
Wertegewichtungen. Die Meinungen laufen überhaupt nicht immer entlang der
Grenzen von Parteien, Religionen oder Kulturen, wiewohl diese natürlich
einen nicht zu unterschätzenden Einfluss haben. Sie sind Ausdruck von tief
verankerten persönlichen und kollektiven Werturteilen. Wie sie ausfallen,
ob und wie sie in Politik, Familie, Wirtschaft und Gesellschaft wirksam
werden, damit hat unser christlicher Glaube und die Art der Tätigkeit
unserer Kirchen sehr viel zu tun.
Die Verantwortung von
Christen und Kirche
Unsere christlichen Kirchen sind
gesellschaftlich nicht mehr dominant. Sie sind keine politischen Parteien.
Sie sind bezüglich der politischen Einstellungen ihrer Mitglieder sehr
heterogen, von links bis rechts, von konservativ bis liberal. Sie haben
auch keineswegs immer valable oder gar die besten Lösungsvorschläge für
die heute meist sehr komplexen und oft nur durch eine sorgfältige
Güterabwägung und ausgewogene Kompromisse handhabbaren Problemstellungen.
In vielen Fragen gibt es auch nicht einfach schwarz-weiss eine
„christliche“ und eine „unchristliche“ Position. Trotzdem sind Wahrheit
und christliche Grundwerte weder relativ noch verhandelbar. Jesus Christus
hat mit seinem Leben und Sterben den in seinem Namen Handelnden deutlich
die Richtung gewiesen. Christen und Kirchen sollen sich deshalb mit ihren
Werten und Gesichtspunkten vernehmbar in die gesellschaftliche Debatte
einbringen. Nicht autoritär die Wahrheit nur für sich beanspruchend. Aber
engagiert und bekennend.
Wie kann das geschehen?
Falls die hier vorgetragene These
richtig ist, dass die Wertediskussion in der Schweiz neu lanciert ist –
wenn auch nicht immer als solche erkannt –, müssen sich jeder Christ, jede
Christin, jede Familie, jede Kirchgemeinde und wir alle als Kantonalkirche
fragen, wie wir uns auf der Basis unserer Glaubens-überzeugungen wirksam
in diesen für die Gestaltung unserer Zukunft so wichtigen Diskurs
einbringen. Vertreter von Kantonsregierung, Wirtschaft und Politik haben
uns auch im Berichtsjahr öffentlich und im persönlichen Gespräch
aufgerufen und ermutigt, durch angemessene Aktivitäten auf vielfältige
Weise sichtbar und wirksam zu sein. Die Menschen von heute seien in vieler
Beziehung verunsichert. Was Not tue, sei nicht, als Kirche fertige
Lösungen zu propagieren, sondern wirksam Werte und Denkanstösse
einzubringen, die sie befähigen, ihrer Verantwortung als Christinnen und
Christen, als Bürgerinnen und Bürger gerecht zu werden.
Unsere Möglichkeiten sind vielfältig.
Sie reichen von der Wertefundamente legenden Arbeit mit jungen Menschen in
Sonntagschule, Religionsunterricht, Jugendarbeit über Gottesdienste und
Erwachsenenbildungsveranstaltungen bis hin zu mannigfachen Formen
dialogischen Gesprächs, öffentlichen Stellungnahmen und konkreten
Aktionen. Es geht darum, Plattformen zu schaffen, wo sich Menschen treffen
und sich als gleichberechtigte Partnerinnen und Partner bewusst und
bewusst machend mit Situationen und Werten auseinander setzen und diese in
Beziehung bringen zu den Grund-überzeugungen des christlichen Glaubens.
Eine für die Menschen und die Gesellschaft relevante Kirche wird dazu
immer wieder viel Sensibilität, Kreativität und Engagement brauchen – vor
allem aber ein Glaubensfeuer, das wärmt und ansteckend auf andere Menschen
überspringt.
Lasst uns alle miteinander mit klarer
Identität und an den christlichen Grundwerten orientiert unterwegs
bleiben, „nahe
bei Gott – nahe bei den Menschen“, begleitet vom Segen Gottes.