Gottesdienst
zur Amtseinsetzung ins Kirchenratspräsidium
Samstag, 8. Jan. 2000, Kirche St. Laurenzen, St. Gallen
Predigt Pfr. Dr. Dölf Weder, Kirchenratspräsident
In dieser Stunde möchte ich uns von einem Jesus-Wort begleiten lassen,
das mir immer wieder Freude und Mut gibt. Es findet sich im
Johannes-Evangelium, in der Bildrede vom guten Hirten. Jesus
unterscheidet darin zwischen sich als gutem Hirten, der für seine
Schafe sorgt, sogar sein Leben für sie gibt, und Dieben und Räubern,
die nur ihren eigenen Interessen folgen.
„Ich
bin gekommen, damit sie Leben haben, Leben in reicher Fülle“ (Johannes
10,10).
Wenn man Menschen heute fragt, was ihre grösste Hoffnung und Sehnsucht
ist, hat ihre Antwort fast immer etwas mit erfülltem Leben, mit Glück
und Liebe zu tun. Wir fragen heute kaum noch: „Wie kriege ich Sünder
einen gnädigen Gott?“ Aber wir fragen umso intensiver: „Wie komme
ich zu erfülltem Leben, zu Leben in reicher Fülle?“ Dahinter steht
das Wissen, dass man das Leben auch verfehlen kann.
Jesus sagte nach Johannes: „Eben darum bin ich gekommen, damit sie
Leben in reicher Fülle haben.“
Beim Evangelisten Johannes und auch beim Apostel Paulus findet sich das
Wort „Leben“ recht häufig. Es ist ein Schlüsselwort für das Heil,
das uns von Gott durch Jesus Christus geschenkt wird. Es bedeutet
heiles, versöhntes, gottgemässes Leben. Solches ist schon jetzt ein Stück
weit erfahrbar und lebbar und wird dereinst seine Erfüllung finden.
Wenn dem wirklich so ist, wenn das auch für uns Menschen hier und heute
gilt, dann wissen wir um eine Botschaft, die es mit den tiefsten Sehnsüchten
von uns heutigen Menschen zu tun hat. Noch mehr: Wir wüssten dann nicht
nur darum, sondern dieses Leben in reicher Fülle wäre bei uns auch
wirklich erlebbar, würde Wahrheit - wenigstens ein Stück weit.
Nun reicht es nicht, Wahrheit einfach zu behaupten. Wahrheit muss sich
als Wahrheit erweisen. Wahrheit muss im Alltag erlebt werden, soll sie
lebensgestaltend sein. Aber Wahrheit wird sich auch als Wahrheit
erweisen - wenn wir uns auf sie einlassen. Das war schon zur Zeit Jesu
so. Blosse Zuschauer aber blieben Zuschauer.
Darum die direkte Frage an uns hier, die wir alle Kirche mit ausmachen:
Erleben wir selber in unserem Leben etwas von dieser reichen Fülle, die
uns Jesus zu geben versprach? Und: Ist unsere Kirche eine Gemeinschaft,
in der solches reiches Leben nicht nur mit Worten bezeugt, sondern -
wenigstens in Ansätzen - auch real erlebbar ist, in seinen lokalen und
globalen Aspekten?
Mit anderen Worten: Es geht um die soziale Glaubwürdigkeit unserer
Botschaft. Lasst uns dazu einen Blick auf unsere Umwelt werfen.
Wir leben in der Zeit eines grossen gesellschaftlichen Umbruches, möglicherweise
vergleichbar mit der Industriellen Revolution im 19. Jahrhundert. Die
Effekte dieses Umbruchs sind in praktisch allen Lebensbereichen
sichtbar. Wirtschaftlich prägen uns Mobilität und Globalisierung.
Politisch und kulturell sind wir immer stärker mit unserer Umwelt
verflochten. Elektronik und neue Kommunikationstechnologien machen uns
zur Informationsgesellschaft. Auf den Strassen und in den Schulen wird
uns bewusst, dass wir uns in Richtung einer multi-kulturellen und
multi-religiösen Gesellschaft bewegen.
Dieser gesamtgesellschaftliche Umbruch betrifft auch unser privates
Leben. Wir sind pluralistischer und individualistischer geworden,
traditionelle Werte wurden relativiert. Die Formen familiären,
partnerschaftlichen und sozialen Zusammenlebens, inbegriffen die Rollen
von Frau und Mann, sind in grundlegender Veränderung. Unser Freizeit-
und Konsumverhalten ist nicht mehr das gleiche. Eine Vielfalt von
religiösen oder religionsähnlichen Formen und Praktiken hat sich
entwickelt.
Geblieben ist die Sehnsucht nach erfülltem, glücklichem Leben.
Ich will hier diese Entwicklung nicht bewerten. Sie ist schlicht ein
Faktum. Und wie immer in der menschlichen Geschichte enthält sie
positive und problematische Elemente. Sicher aber ist, dass so ein
Umbruch immer auch einen Umbruch der gesellschaftlichen Institutionen
mit sich bringt. Das gilt für die Rolle des Staates, für Parteien und
Vereine, für Familien und soziale Strukturen - und natürlich auch für
die Kirchen.
Es kann kein Zweifel bestehen, dass wir auch als evangelisch-reformierte
Kirche in einer Zeit des Umbruchs leben. Wir können nicht so tun, als
sei alles beim Alten geblieben.
Dieser Umbruch verlangt von uns Kreativität, Mut und Veränderungsbereitschaft.
Es muss eine neue Vielfalt von Formen entstehen, in denen Kirche
erlebbar ist. Es stellt sich aber auch die Frage nach dem Bleibenden,
nach dem Kern, nach dem, wofür wir als Kirche unverrückbar stehen.
Schon unsere reformierten Vorfahren haben unsere Kirche beschrieben als
„ecclesia reformata et semper reformanda“, als reformierte und immer
wieder zu reformierende Kirche. Unser Aufbau nach demokratischen Grundsätzen
und unsere Überzeugung vom Priestertum aller Gläubigen geben uns eine
grosse Flexibilität für solche Weiterentwicklung - wenn wir sie denn
wollen.
Wir können und wir sollen eine lebendige Kirche
sein, die sich den gesellschaftlichen Prozessen in aller Offenheit
stellt und gleichzeitig genau weiss, wofür sie steht: Für den
biblischen Christus-Glauben, für das Vertrauen in Gottes Liebe zu uns
Menschen, die uns befähigt zur Liebe und zum Engagement für unsere
Mitmenschen.
In einer solchen wachen Kirche wird auf vielfältige
Weise reiches Leben bezeugt und ein Stück weit erfahrbar - auch für
Menschen im Schatten. Das geschieht, wenn Gottes Geist wirkt und wenn
Christenmenschen gut zuhören, glaubhaft reden und diakonisch handeln.
Diese Kirche wird nicht mehr gesellschaftlich
dominant sein, wie sie das etwa im Mittelalter war. Vielleicht wird sie
gar zu einer Minderheitskirche. Aber sie ist und bleibt eine relevante,
für die einzelnen Menschen wie für die ganze Gesellschaft wichtige
Kirche.
Denn sie ist eine Kirche mit und neben den Menschen
von heute, Seite an Seite mit ihnen, und nicht nur eine Kirche für sie.
Sie nimmt der Menschen Freuden, Sehnsüchte und Nöte achtsam auf - weil
sie aus eben diesen Menschen besteht. Sie verhilft zu Richtung und
Werten. In ihr wirken alle Glieder gleich welchen Alters und Standes mit
ihren je spezifischen Gaben gleichberechtigt zusammen, seien sie nun in
irgend einem Beruf tätig, oder kirchliche Angestellte mit einer
speziellen Fachkompetenz.
Und sie ist Teil eines grösseren Ganzen. Diese
Kirche kooperiert freudig und weltweit solidarisch mit allen Menschen
guten Willens, mit denen anderer christlicher Konfessionen, mit Menschen
anderer Religionen oder keiner, aber auch mit Politik, Wirtschaft und
Kultur. Sie stellt sich dem konstruktiven Dialog. Sie vertritt aber auch
mutig und vernehmbar die Grundwerte und Überzeugungen, die ihr teuer
sind.
Sie ermöglicht mannigfache Zeichen von Reich Gottes
und reicher Fülle mitten im täglichen Leben. Mit dem Apostel Paulus
gesagt: Sie lebt den logischen Gottesdienst im Alltag der Welt (Röm.
12).
Eine solche Kirche ist nur möglich als zutiefst
ganzheitliche und spirituelle Kirche. Die Qualität ihrer geistlichen
Verwurzelung ist entscheidend.
Die reformierten Kirchen mit ihrer Betonung des
Wortes stehen stets in der Gefahr, die Menschen nur auf der
intellektuellen Ebene anzusprechen. Glaube wird dann leicht reduziert
auf ein System theologischer Sätze und auf ethisches Handeln. Das Wort,
der Logos, wurde aber in Jesus Christus Mensch, ein wahrer,
ganzheitlicher Mensch. Christlicher Glaube ist darum stets
ganzheitlicher, inkarnatorischer Glaube.
Es gilt heute, die Müdigkeit, die Ratlosigkeit, die
Erstarrung, die Nörgelei, die interne Streiterei und den blutleeren
Intellektualismus mancher Christen entschieden hinter sich zu lassen und
gemeinsam neu die „reiche Fülle des Lebens“ zu entdecken; zu
entdecken, wie christlicher Glaube unser heutiges Leben auf mannigfache
Weise befreien und durchdringen kann.
Glaube ist kein Hinterhof des Lebens, sondern hat es
mit dessen Gesamtheit und Tiefe zu tun.
Dazu muss unser Glaube ein persönlicher, ein
ganzheitlicher, ein spiritueller sein: Begegnung mit Gott als Du - ein
Stück Erfahrungsfrömmigkeit. Dazu anzuleiten und dies zu erleben
helfen ist eine der vornehmsten Aufgaben unserer Kirche.