Sonntag, 14. September 2003
Evangelische Kirche St. Andrea, La Punt-Chamues-ch (Engadin), Pfr. Dr.
Dölf Weder
In der Predigt zum heutigen Jubiläumsgottesdienst
möchte ich meinen eigenen Konfirmationsspruch in die Mitte stellen. Er
zierte die Wand des Unterrichtszimmers im Pfarrhaus Heiligkreuz St.
Gallen, in welchem wir unseren Konfirmandenunterricht genossen.
Inzwischen wurde das Zimmer renoviert und der Bibelspruch überpinselt.
Eine tiefe Wahrheit auszudrücken scheint er mir aber noch allemal, heute
genauso wie zur Zeit seiner Verfassung vor hunderten von Jahren. Es ist
Psalm 36,10:
„Bei dir, Herr, ist die Quelle
des Lebens,
und in deinem Lichte
sehen wir das Licht.“
Vom Wasser ist da die Rede, und vom Licht. Und von der
Frage, woher denn dieses lebensspendende Wasser und dieses Licht für
unser Leben letztlich her kommt.
Nun sind sowohl Wasser als auch Licht zwei Elemente, die ich in meinem
eigenen Erleben sehr stark mit dem Engadin verbinde. Mich würde es nicht
überraschen, wenn es vielen von Ihnen hier in der Kirche ebenso erginge.
Natürlich, zuerst denkt man bei „Engadin“ mal an die Berge, an hohe,
weisse Berge. An den wunderschönen Piz Palü und seine Gipfelgrate, und
an die majestätische Bernina mit dem Bianco-Grat; an Piz Languard und La
Margna, an Piz Kesch und natürlich an unseren Piz Mezzaun hier. In jedem
von uns steigen da Bilder auf. Bilder von wunderschönen Bergen. Aber
auch Bilder von eigenem Erleben mit ihnen. Von unvergesslichen
Bergtouren, und von Kameradschaft mit Gleichgesinnten.
Aber dann steht das Engadin schon bald einmal auch für
Wasser. Hier in La Punt-Chamues-ch denkt man natürlich sofort an den
Inn, an die Chamuera und an das Bädli. Aber da sind auch die vielen
grösseren und kleineren Wasserfälle überall. Und vor allem die
unendliche Zahl murmelnder Bäche und Bächlein, umsäumt von saftigem Gras
und farbiger Sommerblumenpracht.
Für mich hat ein Ort eine besondere Bedeutung. Es ist
die saftig-grüne Wiese mit dem murmelnden Bach schräg unterhalb der
Alp Languard oberhalb von Pontresina. Die Wiese liegt am Weg von der
Paradies-Hütte Richtung Röntgenplatz, grad bevor man unterhalb der Alp Languard in den Wald mit der Gruppe der wundervollen Arvenbäume hinein
kommt.
Wenn ich mir eine saftige Wiese mit murmelndem
Bächlein vorstelle, oder wenn ich Psalm 23 höre: „Der Herr ist mein
Hirte, mir wird nichts mangeln, auf grünen Auen lässt er mich lagern,
zur Ruhstatt am Wasser führt er mich“, dann kommt mir stets dieses
kleine Stück Paradies in den Sinn.
Jedes von uns hier in dieser Kirche hat wohl sein
eigenes Bild von seiner Wiese mit dem murmelnden Bächlein, hat wohl sein
eigenes Bild von seinem kleinen Stück Paradies. Von Zeit zu Zeit steigt
es auf vor unserem inneren Auge.
Ich glaube, es ist wichtig für jedes von uns, so ein
Stück Paradies auf Erden zu haben. Ein Bild, zu dem man zurückkehren
kann, wenn man Ruhe und Frieden sucht. Und noch schöner ist es, wenn man
dieses Bild ab und zu auch in der Wirklichkeit besuchen kann. Vielleicht
sogar irgendwo hier im Engadin.
„Sehet die Lilien auf dem Felde!“, höre ich in meinen
Jugenderinnerungen den alt-ehrwürdigen Pfarrer Signorell in der Kirche
La Punt immer noch predigen. Sehet das Wasser, sehet das Grün, das diese
Lilien nährt.
In so einer saftigen Blumenwiese an einem Bächlein
sitzen können, nichts tun, einfach schauen, dem Wasser folgen, bis es
weiter unten irgendwo verschwindet, unterwegs auf dem Weg zur Weite des
Meeres. Wundervoll.
Für mich sind das starke Momente der Entspannung, der
Geborgenheit, des unbesorgten Lebens im Jetzt. Ein Stück heilen Lebens,
Distanz von den Sorgen des Alltags und von all den Verpflichtungen und
Verantwortungen, die er mit sich bringt.
Sicher, der Weg führt anschliessend wieder zurück. Das
leuchtende Licht des Engadins, von Giovanni Segantini so wundervoll auf
Leinwand gezaubert, wird vertauscht mit dem vertrauten Alltagslicht im
Unterland. Aber wir fühlen uns neu gestärkt. Wir haben wieder ein Stück
Mitte in uns gefunden.
Nun - sprudelndes Wasser in einem Bächlein, das kommt
irgendwo her. Es entspringt einer Quelle, einem Gletscher, einem
Schneefeld. Und erst diese Quelle ermöglicht das Murmeln des Bächleins,
ermöglicht das saftige Grün der Wiesen. Ohne Quelle kein Wasser. Ohne
Wasser keine grüne Wiese.
Und da kommen wir jetzt auf unseren Psalmtext zurück.
Haben Sie sich auch schon gefragt, warum es Menschen
gibt, die so eine elementare Lebendigkeit in sich haben? Die Energie und
Tiefe ausstrahlen? Die im Leben tief verwurzelt schein und Verantwortung
übernehmen?
Und warum es andere Menschen gibt, die wie vom
Lebenssaft abgeschnitten wirken, lebendig am Verdorren?
Oder warum es Menschen gibt, die haltlos und
wurzellos, wie Treibsand durch das Leben wirbeln, nur auf das eigene
Interesse, nur auf Macht, auf Konsum und auf den eigenen materiellen
Vorteil bedacht? Menschen, die keine Verantwortung übernehmen und für
keine Überzeugungen einstehen?
Woher kommen denn Wurzeln, woher gesunder Lebenssaft? Woher das Wasser,
das uns lebendig,verantwortlich, zuversichtlich und glücklich
macht? Woher kommen Sinn und Tiefe im Leben, sogar dann, wenn mal dunkle
Gewitterwolken über unsere Existenz ziehen?
„Bei dir, Herr, ist die Quelle des Lebens“ sagt unser
Psalmvers. In Gottes Nähe entspringe Wasser und von dort fliesse es
durch unser Leben. In Gottes Nähe entspringe lebendiges Leben, sagt
unser Psalmist.
Auf den ersten Blick ist das einfach mal eine
Behauptung. Auf den zweiten Blick ist kritisch zu sagen, dass es wohl
auch Menschen voller Leben und mit viel Engagement gibt, die nicht so wahnsinnig nahe an Gott
leben, oder zumindest nicht so nahe an unserem christlichen Gott.
Aber dieser Psalmen-Satz schliesst solches nicht aus. Er
spricht bloss von einer menschlichen Erfahrung. Von einer Erfahrung, die
unzählige Menschen und viele Generationen durch alle Jahrtausende
hindurch in ihrem Leben gemacht haben: dass es nämlich eine Quelle des
Lebens gibt. Und dass man sich an ihrem Wasser laben und stärken kann.
Und darum ist dieser Satz nicht nur eine Behauptung,
sondern eine Erfahrung von Millionen von Menschen. Und er ist auch ein
Angebot: Mensch, setz dich in meine Nähe, setz dich an mein Quellwasser.
Spüre, wie dich mein Wasser lebendig macht. Spüre, wie du grünst und für
deine Mitmenschen Verantwortung übernimmst und vielfältige Frucht bringst.
Ich weiss, liebe Gemeinde dass jetzt viele unserer
Zeitgenossen einwenden werden: Fromme Sprüche, Romantizismus, naive
Weltflucht, viel zu einfach, den komplizierten Realitäten unserer Welt
nicht standhaltend.
Ich weiss auch, dass der Weg von diesem Quellwasser
immer wieder zurück in den Alltag, in den ganz prosaischen Alltag führt,
mit seinen oft nicht einfachen Aufgaben und Verantwortungen.
Aber ich muss Ihnen einfach sagen, dass ich mir diese,
auch meine, Erfahrung nicht ausreden lasse: Dass es diese Quelle des
Lebens gibt, und dass sie uns immer wieder stärkt, uns Wurzeln wachsen
lässt, und uns ausrüstet, im Alltag der Welt mit offenen Augen zu leben
und mit zupackenden Händen zu arbeiten, als verantwortliche Menschen.
Und damit kommen wir zur Bedeutung eines Werkes wie
der Stiftung CVJM Ferienheim La Punt. In diesen 50 Jahren hat die
Stiftung tausenden und zehntausenden von jungen Menschen ein Dach über
dem Kopf und einen Ort gemeinschaftlichen Lebens und miteinander
Sprechens gegeben. Keines von uns hier weiss, wie viele wichtige
Gespräche über das Leben und auch über den Glauben in diesen Häusern in
den 50 Jahren geführt worden sind.
Ich weiss, dass vorab die Lager des CVJM St. Gallen,
aber auch die Lager vieler anderer Organisatoren immer wieder versucht
haben, das Erlebnis der Gemeinschaft und das Erlebnis der wundervollen
Engadiner Landschaft mit dem Glauben zu verbinden.
Und ich weiss aus eigenem Erleben, dass ich ebenso wie
viele hunderte andere durch eben solche Erlebnisse und Gespräche tief
geprägt worden bin. Die gemeinsame Suche nach dem Saft im Leben, die
Suche nach der Quelle des Wassers in der menschlichen Existenz hat mich
und viele andere zutiefst beeinflusst und hat uns tiefe Wurzeln schlagen
lassen. Ohne diese Erlebnisse in La Punt
wäre ich auch nicht Pfarrer geworden. Und ohne diese Erlebnisse stünde ich
heute hier nicht predigend vor Ihnen.
Nähe zu Gott und damit frisches Quellwasser für unser
Leben und tiefe Wurzeln für unsere Existenz heisst das Angebot.
Angebot und Verpflichtung
Für die Stiftung CVJM Ferienheim und deren
Verantwortliche, aber auch für uns als christliche Gemeinde und als
deren Glieder bedeutet das aber auch eine Verpflichtung.
Nämlich die Verpflichtung, dieses Angebot an die
heutigen jungen Menschen weiter zu geben, klar und deutlich. Nicht feige zu kneifen und
unseren Glauben schamhaft als privates Tabu zu behandeln. Sondern auf
nüchterne, erwachsene Art davon zu reden: Dass es einen Gott gibt, der
den Kontakt zu uns Menschen sucht. Einen Gott, der uns mit Wasser des
Lebens lebendig machen und uns hinaus senden will zu unseren
Mitmenschen, um dort im Alltag der Welt Verantwortung zu übernehmen.
Nähe zu Gott – Angebot und Verpflichtung für uns:
„Bei dir, Herr, ist die Quelle des Lebens.“
Baum, gepflanzt am Wasser, sein
Ich möchte diese Predigt schliessen, indem ich Ihnen
noch einen zweiten Lieblingstext von mir mitgebe. Auch er hat mit Wiese
und Bach zu tun. Vor allem aber mit einem Baum, der am Ufer dieses
Baches gepflanzt ist und seine Wurzeln zum Bach hin ausstreckt.
Es geht wieder um die Frage: Woher erhalte ich denn
den Lebenssaft für mein Leben? Wie kann ich tiefe Wurzeln schlagen? Denn
ein Baum ohne Wurzeln stirbt oder ist bereits tot. Der Text sagt: So ein Baum mit Lebenssaft,
sop ein Baum mit Wurzeln,
ist der Mensch, der Gott vertraut, der seine Hoffnung auf Gott setzt und
Gottes Nähe sucht.
Es ist das Angebot, als Mensch ein Baum zu sein, der
am Wasser gepflanzt ist und der darum in der Welt Verantwortung
übernimmt und Frucht trägt.
Der Text findet sich in Jeremia 17, 7-8. Und weil er
für mich so wichtig ist, lese ich ihn in allen meinen Gottesdiensten vor
dem Segen. Sie werden ihn heute also am Ende des Gottesdienstes
nocheinmal hören:
"Gesegnet ist der Mensch,
der auf Gott vertraut
und dessen Hoffnung der Herr ist.
Er ist wie ein Baum,
der am Wasser gepflanzt ist
und seine Wurzeln
zum Bach hin ausstreckt."
Nicht jedes von uns findet dieses Wasser auf gleiche
Weise. Aber ich glaube, jedes von uns weiss, wo und wie es zum Bächlein
mit dem Quellwasser findet. Vielleicht ist es schon etwas überwachsen,
vielleicht schon lange nicht mehr besucht. Vielleicht nur noch als
unbestimmte Sehnsucht oder als leise Hoffnung auf ein Leben in
Geborgenheit und Kraft vorhanden. Vielleicht verschweigen wir schamhaft
die Quelle unseres Lebenswassers oder sind uns ihrer gar nicht bewusst.
Dieses Wasser und seine Quelle fliesst für jedes
Leben, für jeden Menschen. Gott hat es uns versprochen. Jesus Christus
hat uns den Weg gezeigt, es in unserem Leben zu finden. Strecken wir
unsere Wurzeln nach ihm aus! Lassen wir es durch unser Leben fliessen
und ihm Saft, Kraft und Tiefe geben! Denn:
„Bei dir, Herr, ist die
Quelle des Lebens
und in deinem Lichte
sehen wir das Licht.“
Amen.