Interview der Zeitschrift ideaSchweiz
mit Pfr. Dr. Dölf Weder, Kirchenratspräsident, Nr. 5/2003, Februar 2003.
Interview: Monique Trummer Kissling
Die Veränderungen in der Gesellschaft haben auch vor der Kirchentür
nicht haltgemacht. Monique Trummer Kissling sprach mit Dölf Weder,
Evangelisch-reformierter Pfarrer und Kirchenratspräsident der
Kantonalkirche St. Gallen.
Herr
Weder, war es früher für die Kirchen einfacher als
heute?
Sicher
war früher manches einfacher, weil die Gesellschaft homogener war.
Einfacher in dem Sinne, dass man zum Beispiel am Sonntag in die Kirche
ging, weil es dazu gehörte. Aber auch im 19. Jahrhundert hatte die Kirche
Identitätsprobleme. Gleichzeitig entstanden ganz wichtige Werke der
Diakonie und Mission. Schwierige Zeiten sind stets auch Chancen für Neues.
Heute leben wir in einer Zeit, in der viele Selbstverständlichkeiten
zerbrechen. Dennoch sind Werte wieder gefragt. Kirche ist nicht nur für
den Sonntagmorgen da. Nach dem Neuen Testament ist sie
Christusgemeinschaft unterwegs, wanderndes Gottesvolk. Das beinhaltet weit
mehr als „nur“ Gottesdienste. Wir sollen Salz der Erde in umfassendem
Sinne sein.
Befindet sich die Kantonalkirche St. Gallen
auch in einer Krise?
Es
ärgert mich, wenn in Zeitungen nur von Krisen und Austritten geschrieben
wird. Ich spreche lieber von Umbruch. Unsere ganze Gesellschaft ist in
rasantem Umbruch, da ist es nur natürlich, dass auch die Kirchen im
Umbruch sind. Natürlich bedeutet jeder Umbruch ein Stück Krise – aber auch
neue Chancen und Entwicklungen.
In
einem zweijährigen Prozess entstand die Vision „St.
Galler Kirche 2010“. Warum braucht es solche
Leitziele?
Viele
etablierte Kirchen sind in einem zyklischen Denken gefangen: Quasi „von
Ewigkeit zu Ewigkeit, Amen“. Wir funktionieren wie immer, macht bitte mit
und stört uns nicht. Wir St. Galler Reformierten haben aber beschlossen,
uns den Herausforderungen der Zeit zu stellen, klare Ziele anzuvisieren
und uns dabei verändern zu lassen. Das ist nicht immer einfach. Auf der
einen Seite sind wir offen für Neues, auf der anderen Seite scheuen wir
uns vor dem Unbekannten, haben Angst, Liebgewonnenes loslassen zu müssen.
Wir sind jedoch überzeugt, auf dem richtigen Weg zu sein. Beispielsweise
sind bei uns zur Zeit hochinteressante neue Stabsstellen ausgeschrieben:
Vielfältige Gottesdienste und populäre Musik, Familien und Kinder, Kirche
im Dialog (OeME), Erwachsenenbildung und anderes.
Das
Papier „St. Galler Kirche 2010“ steht unter dem Leitwort: „Nahe
bei Gott - nahe bei den Menschen“. Was bedeutet das konkret?
„Nahe
bei Gott“ steht für das Evangelium, den Glauben. „Nahe bei den Menschen“
heisst, von ihnen her denken, an ihre Seite treten, auf ihre
Lebensumstände eingehen. In all unseren Tätigkeiten sind Menschennähe und
Gottesnähe aufeinander zu beziehen. Im christlichen Glauben gibt es das
eine nicht ohne das andere. Das sieht man schon bei Jesus. Was ist zum
Beispiel mit Vätern, die ein Wochenendbesuchsrecht haben? Wo fühlen Sie
sich mit ihren Kindern bei uns wohl? Manchmal stellen wir auch im Namen
Gottes Menschen an den Pranger. Ich denke dabei an gleichgeschlechtliche
Paare, an Schwangerschaftsabbruch, AIDS oder Scheidung. Wie leben wir da
Menschennähe?
Gerade
in diesen Fragen wird den Kirchen vorgeworfen,
schwammig zu sein, keine klare Linie zu haben. Wie sieht das in St.
Gallen aus?
Ein
klares Profil zu haben, ist allen wichtig. Die Frage ist nur, welches ist
das richtige Profil? Jede theologische Richtung hat darüber ihre eigene
Meinung. Wir beziehen als Kirchenrat bei Abstimmungen zu ethischen Themen
Position. Immer mal wieder wird uns deshalb mit Austritt gedroht. Das
Problem ist, dass die einen bei Ja drohen, die anderen bei Nein, während
die dritten sich ärgern, wenn wir schweigen. Profillos sein, nur weil
Mitglieder mit Austritt drohen, das kann es nicht sein.
Und
wie geht es der St. Galler Kirche heute?
Wir
sind auf gutem Weg. Ein Student der Uni St. Gallen sagte kürzlich salopp
zu mir: „Das Produkt, der christliche Glaube, ist super, nur die
Verpackung und das Marketing sind schlecht.“ Wir arbeiten daran, die
Menschennähe zu verbessern und Gottes Botschaft treu zu sein. Es freut
mich zu sehen, dass bei vielen Mitarbeitenden und Gemeinden die
Resignation bereits zurückgegangen ist und neuer Hoffnung und Kreativität
Platz gemacht hat.
Wie sieht
die Zusammenarbeit mit anderen Kirchen aus? Gibt es überhaupt eine
Zusammenarbeit, zum Beispiel mit den
Freikirchen?
Das ist abhängig von den lokalen
Kirchgemeinden. Einige arbeiten eng mit diversen Freikirchen zusammen,
andere weniger. Erst kürzlich wurde zum Beispiel in St. Gallen in der
reformierten
Heiligkreuzkirche ein gemeinsamer Gottesdienst gefeiert, zum Ende der
Allianzgebetswoche. Er war von Form, Inhalt und Musik stark freikirchlich
geprägt. All monatlich findet in der Heiligkreuzkirche auch die Jesus
Church für Junge statt, getragen vor allem von den Freikirchen.
Und
was ist mit der katholischen Kirche?
Für uns als
Kantonalkirche ist die katholische Kirche naturgemäss unsere
Hauptpartnerin. Vor allem im Hinblick auf viele Berührungspunkte in der
Seelsorge, Religionsunterricht, Sozialarbeit und so weiter. Das soll aber
die Freikirchen nicht ausschliessen. Im Rahmen unseres 200-Jahr Jubiläums
findet am Bettag ein ökumenischer Gottesdienst statt, an welchem, nebst
der Katholischen Kirche, auch die St. Galler Allianzfreikirchen beteiligt
sind.
Woran liegt
es, dass eine engere Zusammenarbeit oft scheitert?
Von unseren
Gemeinden hören wir leider, dass eine engere Zusammenarbeit mit den
Freikirchen häufig daran scheitert, dass diese zur Bedingung machen, dass
die katholische Kirche nicht ebenfalls mit dabei ist. Für uns ist das
natürlich nicht akzeptabel, sind die Katholiken doch für uns doch wichtige
Partner in der ökumenischen Zusammenarbeit.
Wie sieht
das bei Ihnen persönlich aus?
Ich selber pflege
persönliche Kontakte mit Pastoren, Mitarbeitenden und Gemeindegliedern der
St. Galler Freikirchen und verkehre infolge privater musikalischer
Tätigkeit jede Woche in de Räumen der Pfingstmission. Von meiner
17-jährigen Vollzeitertätigkeit als CVJM Lokal- und Europasekretär habe
ich persönlich keine Berührungsängste mit freikirchlichen Kreisen.
(Abdruck in ideaSchweiz
5/03 leicht gekürzt)