Interview Marc A. Iseli,
NZZ Campus, mit Pfr. Dr. Dölf Weder,
Kirchenratspräsident, 4. Mai 2012
Lieber Herr Weder, Sie selbst haben zu Beginn der
70er-Jahre ihr HSG-Studium abgebrochen, als im
Englisch-Unterricht Arthur Millers Stück «Tod eines Handlungsreisenden»
besprochen wurde.
Genau, ein Grossteil der Studierenden
hat sich damals gegen das Bild der Wirtschaft, das im Stück transportiert
wird, gewehrt. Das sei eine dramatische Verunglimpfung der
Marktwirtschaft. Da realisierte ich endgültig, dass mir diese Welt zu eng
war.
Konnten Sie mittlerweile eine Veränderung in diesem
Denken feststellen?
Es besteht an der HSG eine gewisse
Vielfalt von Meinungen. Es gab und gibt beispielsweise Exponenten,
Studierende und Professoren, die sich deutlich von einer übertriebenen
amerikanischen Marktgläubigkeit, einer reinen Shareholder Value
Orientierung und vom Ignorieren der Schattenseiten unseres Wirtschaftens
distanzieren. Sie weisen auch darauf hin, dass das menschliche Leben aus
mehr als bloss aus der Wirtschaft und deren Interessen besteht.
Es gibt aber auch Veranstaltungen, die
ein elitäres Selbstverständnis transportieren und an denen alle auch
äusserlich uniformiert sind. Man spielt ein Spiel, das letztlich das einer
gesellschaftlich privilegierten Subgruppe und damit einer Subkultur ist.
Studierende fühlen sich bereits als zukünftige mächtige CEOs und sind sich
wohl nicht immer ganz bewusst, welche Realitäten sich hinter dem allem
verbergen.
Denken Sie, dass die
Wertedebatte in der heutigen universitären Ausbildung im Bereich der
Betriebswirtschaftslehre und der Volkswirtschaftslehre zu kurz kommt?
Grundsätzlich ja. Wir müssten stärker
reflektieren und thematisieren, welche Wertesysteme unserem Handeln
zugrunde liegen.
Ist Wirtschaft denn kein moralfreier
Raum?
So etwas wie eine Wirtschaft ohne
Wertgebundenheit oder – allgemeiner – menschliches Handeln, das nicht an
Werte gebunden ist, existiert gar nicht. Auch ein Finanzmanager, der
seinen Bonus maximiert, lebt damit seinen Werten nach. Viel Geld zu
erhalten, hat für ihn einen hohen Wert – finanziell und psychologisch als
gesellschaftliche Anerkennung. Solche oft impliziten Werte entsprechen
unterschiedlichen Vorstellungen von «richtig» und «falsch», «wichtig» und
«weniger wichtig». Es gibt keine Wertelosigkeit. Die Frage ist: Welche
Werte leiten mich? Das macht man sich oft nur ungenügend bewusst, was im
Laufe des Lebens zu tiefen Sinnkrisen und zu gravierenden
gesellschaftlichen Fehlentwicklungen führen kann.
Was wir in unserer zunehmend
pluralistischen Gesellschaft auch beobachten können, ist ein Wertewandel
hin zu einer individualisierten und individualistischeren Lebensart. Ein
Lebensstil, der eher aus dem angloamerikanischen Raum stammt, wohingegen
der traditionelle kontinentaleuropäische Ansatz den sozialen, kollektiven
Aspekt stärker betont. Das spiegelt sich auch in den Wirtschafts- und
Sozialsystemen.
Und wie ist dieser Wertewandel
zu beurteilen?
Ich vertrete keine
Wertezerfalltheorie, sondern plädiere für einen Wertepluralismus, wo
verschiedene Wertesysteme miteinander in kritischem Diskurs sind. Ich
glaube, dass unsere zunehmend pluralistische und multikulturelle
Gesellschaft einen Mindestvorrat an gemeinsamen Werten und eine
respektvolle Balance verschiedener Wertesysteme benötigt, um politisch,
wirtschaftlich und sozial nachhaltig zu sein. Der Zürcher Sozialethiker
Arthur Rich hat gesagt: ‹Jeder Wert, der verabsolutiert wird, wird zu
einem Unwert›.
In diesem Punkt stimme ich Ihnen zu. Gerne würde ich
aber noch die Frage nach dem Zusammenspiel von Wertesystemen beleuchten.
Inwiefern leben wir in einer globalisierten
Wertekultur?
Der Einfluss der Globalisierung wird
von vielen negativ beurteilt und führt auch zu den entsprechenden
Reaktionen. Die vermehrte Ablehnung des Fremden beispielsweise ist
Ausfluss von geweckten Ängsten. Es entstehen Gegenbewegungen derer, die
sich als Verlierer einer globalisierten Welt sehen.
Für mich ist Globalisierung aber
schlicht ein Faktum. Wir leben nun mal in einer sich zunehmend
globalisierenden Welt – auch in einer sich globalisierenden Werte-Welt –,
samt den entsprechenden positiven und negativen Konsequenzen.
Als Kirchenratspräsident der evangelisch-reformierten
Kirche St. Gallens können sie mir bestimmt auch sagen, welche Auswirkungen
die Globalisierung für das konkrete Schaffen
der Kirche hat.
Der christliche Glaube war eine der
grossen international denkenden und wirksamen Bewegungen. Und er ist es
noch immer, auch wenn wir ein Dilemma wahrnehmen: Eigentlich ist der
christliche Glaube ein global denkender, ein sozialer, revolutionärer,
kritischer Glaube. Das alte und neue Testament berichten von der
Fürsprache für die Armen sowie einer kritischen Haltung gegenüber dem
Königtum und den religiös und gesellschaftlich Dominanten. Das als mit
Jesus angebrochen geglaubte Gottesreich hat universale Dimension. Aber
unsere real existierenden kirchlichen Gemeinschaften überleben unter
anderem auch deshalb, weil sie für die Menschen Tradition und Sicherheit,
also gerade nicht Veränderung und Globalisierung bedeuten.
Verlangt die Kirche in den jetzigen Zeiten von Finanz-
und Schuldenkrise nicht wieder eine moralische
Monopolstellung für sich?
(zögert.)
Insbesondere mit gewissen katholischen Exponenten habe ich
mich in dieser Frage gelegentlich duelliert. Meine Wahrnehmung dieser
Position ist: ‹Jetzt sieht die Gesellschaft wieder, wie notwendig wir
sind, um ihr zu sagen, welchen Werten sie zu folgen hat.›
Ich sage stets dezidiert, dass die
protestantische Position nicht darin bestehen kann, eine neue Dominanz
eines einzelnen Wertesystems zu installieren versuchen. Diese
monopolistischen Zeiten sind vorbei, zum Glück übrigens. Während die
Kirchen früher, insbesondere auch die katholische, Werte diktieren
konnten, gibt es heute eine permanente Diskussion um «gute» oder
«schlechte» Verhaltensweisen. Diese Debatte wird von vielen Institutionen
und Akteuren geformt. Und sie ist klar pluralistisch und multikulturell in
ihrem Ansatz, zunehmend beeinflusst auch von globalem Denken.
Unser Beitrag als Kirchen zum
Wertediskurs soll ein Diskussionsbeitrag sein. Wir sollen auch
Diskussionsplattformen anbieten. Das bedeutet keine Relativierung der
Wahrheitsfrage. Aber Wahrheit muss sich als Wahrheit erweisen, man kann
sie nicht mehr nur behaupten. Die Frage, die wir uns stellen müssen,
lautet, wie wir uns als Kirchen in einer guten Art und Weise in die
Wertedebatte einbringen können. Wir müssen dann aber auch damit leben,
dass nicht alle ein Loblied auf unsere Positionen singen werden.
Welchen praktischen Beiträge zur
Wertedebatte kann die evangelisch-protestantische Kirche leisten?
Einen wichtigen, aber bescheidenen,
wir sind nicht mehr gesellschaftlich dominant. Das Führen von vielfältigen
Gesprächen mit Menschen und Gruppen aller Arten ist bestimmt eine unserer
wichtigsten und täglich ausgenutzten Möglichkeiten. Es gibt aber auch
strukturelle Ansätze: Als kantonale Kirche stehen wir beispielsweise in
regelmässigem Dialog mit der Regierung und ihren Dienststellen. Das war
und ist beispielsweise in der Asylfrage sehr wichtig. Oder der Bischof,
der Rabbiner und ich treffen uns einmal jährlich mit einer
überparteilichen Gruppe von Kantonsparlamentariern, der Ethikgruppe. Schon
vor Jahren haben wir uns erfolgreich dafür stark gemacht, dass immer auch
der Präsident des islamischen Dachverbandes eingeladen wird, so dass ein
überkonfessioneller und interreligiöser Dialog über wichtige
gesellschaftliche Wertefragen geführt werden kann. Das geschah
beispielsweise über die Gestaltung einer auch für Muslime würdigen
Bestattung und die dazu notwendigen gesetzlichen Anpassungen.
Und erlauben Sie mir bitte eine abschliessende Frage.
Was wünschen Sie sich für uns als
Wertegesellschaft?
In einem Satz zusammengefasst wünsche
ich mir, dass sich die Wirtschaft – und auch die Politik – wieder stärker
am Gemeinwohl orientieren. Auf lange Sicht kann eine Gesellschaft nur
funktionieren, sofern alle Akteure nicht nur ihr Eigeninteresse, sondern
auch das Gemeinwohl verfolgen.