Ordination eines Pfarrers und eines
sozial-diakonischen Mitarbeiters
Sonntag, 19. Nov. 2000, Kirche St. Laurenzen, St. Gallen
Predigt Pfr. Dr. Dölf Weder, Kirchenratspräsident
Der Text, den wir
im heutigen Ordinationsgottesdienst miteinander bedenken wollen,
findet sich in der Apostelgeschichte des Evangelisten Lukas, Kapitel 6,
1-7. Ich habe ihn gewählt, weil er uns etwas darüber sagt, dass eine
christliche Gemeinde genügend und verschiedene Arten von Mitarbeitenden
braucht, um ihren Auftrag recht erfüllen zu können.
Die Geschichte
spielt sich ab in der jungen christlichen Gemeinde in Jerusalem.
In den Monaten
und ersten Jahren nach Auferstehung und Pfingsten sind immer mehr
Menschen zu ihr hinzu gestossen. Da gibt es inzwischen nicht mehr nur
die aramäisch sprechenden einheimischen Judenchristen. Hinzu gekommen
sind auch zurückgewanderte Juden aus der ganzen damaligen Welt: aus dem
heutigen Italien, Spanien und Ägypten, aus Griechenland und der Türkei
zum Beispiel. Diese Menschen sprechen vorwiegend griechisch. Die
christliche Gemeinde ist also zunehmend zweisprachig geworden.
Man führt ein
intensives gemeinschaftliches Leben. Viele der Menschen haben Besitztümer
verkauft, und den Erlös der Gemeinde zur Verfügung gestellt. Man teilt
so miteinander den Glauben und das Abendmahl, aber auch den Besitz und
das tägliche Brot. Geleitet wird die Gemeinde von den zwölf Aposteln.
Und wir können uns gut vorstellen, wie sie sich mit immer mehr Arbeit
konfrontiert sehen.
Ich lese Apostelgeschichte 6,
1 – 7:
Als aber in
diesen Tagen die Zahl der Jünger zunahm, entstand ein Murren der
griechisch sprechenden gegen die einheimischen, weil ihre Witwen bei der
täglichen Versorgung übersehen wurden.
Da beriefen die
Zwölf die Menge der Jünger und sagten: Es ist nicht angemessen, dass
wir das Wort Gottes vernachlässigen und bei den Tischen Dienst tun.
Seht euch aber, ihr Brüder, nach sieben Männern aus eurer Mitte um,
mit gutem Ruf, voll Geist und Weisheit, die wir für diese Aufgabe
einsetzen können. Wir jedoch wollen beim Gebet und beim Dienst des
Wortes verharren.
Und die Rede
gefiel der ganzen Menge, und sie wählten Stephanus, einen Mann voll
Glaubens und heiligen Geistes, und Philippus und Prochorus und Nikanor
und Timon und Parmenas und Nikolaus, einen Judengenossen aus Antiochia.
Diese stellten
sie vor die Apostel, und nachdem sie gebetet hatten, legten sie ihnen
die Hände auf.
Und das Wort
Gottes wuchs, und die Zahl der Jünger mehrte sich in Jerusalem sehr,
und auch eine grosse Menge der Priester wurden dem Glauben gehorsam.
Griechisch
sprechende Witwen vernachlässigt
Liebe
Mitchristinnen und Mitchristen
Da wird an den
Tatsachen gar nichts beschönigt: Bei der täglichen Verteilung von
Nahrungsmitteln werden die griechisch sprechenden Witwen von
Auslandjudenchristen regelmässig übersehen.
Das ist nicht nur
eine Frage der Gerechtigkeit, sondern bei manchen auch eine Frage des Überlebens.
Starb einer Frau
der Mann, gab es für sie kaum Möglichkeiten, sich selber ihren
Unterhalt zu verdienen. Hatte sie, zum Beispiel als Zugezogene, keine
Kinder und Verwandten, wurde ihre Situation wirklich schwierig, und nur
allzu schnell drohte ihr sogar der Hunger. Wir können uns gut
vorstellen, dass für Frauen, die vielleicht erst kurz vorher mit ihrem
Gatten aus dem Ausland nach Israel gekommen waren, ihre
Griechischsprachichkeit eine zusätzliche Barriere bildete. Vielleicht
lebten solche Witwen besonders zurückgezogen und waren darum leicht zu
übersehen.
Wir müssen da
bei dieser christlichen Gemeinde also nicht gleich eine Art Ausländerfeindlichkeit
diagnostizieren.
Es war wohl eher
so wie bei uns hier in St. Gallen: Menschen, die unsere christliche
Solidarität bitter nötig hätten, Einheimische und Ausländer, leben
oft zurückgezogen oder in uns unzugänglichen Kreisen. Sie sprechen uns
gegenüber wenig von ihren Schwierigkeiten, und wir begegnen diesen
Schwierigkeiten darum kaum. Menschen in Not, in seelischer, körperlicher
oder materieller, Einheimische oder Fremdsprachige, werden auch von uns
St. Galler Christen mit gutem Willen, häufig einfach übersehen.
Es wäre ja
interessant, unsere kirchlichen Aktivitäten einmal nach diesem
Gesichtspunkt kritisch zu analysieren: Wenn wir die Liste unserer
Veranstaltungen und Aktivitäten durchgehen: Welche Menschen, die uns
seelisch, geistlich oder materiell bitter nötig hätten, werden da
systematisch übersehen?
In Jerusalem wird
nun also gemurrt. Das kennen wir ja auch. Wenn uns Menschen etwas nicht
passt, dann murren wir zuerst einmal. Nur hilft Murren nicht viel
weiter. Sehr wohl aber das offene Gespräch.
Die zwölf
Apostel stellen sich diesem Gespräch und der Kritik. Sie beschönigen
auch nichts. Jawohl, da herrscht ein Missstand, ein nicht akzeptabler.
Das muss eingestanden werden. Und da muss gehandelt werden. Dabei fällt
selbst einem Apostel kein Stein aus der Krone.
Sie versammeln
die Menge der Jünger, eine Kirchgemeindeversammlung also. Und da geht
es jetzt um Prioritäten beim Mitarbeitereinsatz.
Die
Diakonie des Wortes und des sozialen Handelns
Modern gesagt, könnte
man jetzt Verkündigung gegen Diakonie ausspielen: Ist es denn nun erste
Aufgabe der christlichen Gemeinde in Jerusalem, weiter missionarisch
ausgerichtete Wort Gottes Verkündigung zu betreiben, oder vermehrt
notleidenden Witwen durch diakonisches Handeln zum täglichen Brot zu
verhelfen?
Man könnte sogar
einen netten theologischen Richtungsstreit austragen: Hie die
worttreuen, evangelistisch ausgerichteten „guten Christen“ und da
die diakonisch, sozial ausgerichteten „engagierten Christen“. Hie
die Befürworter von möglichst vielen Pfarrstellen und Gottesdiensten,
und da die Befürworter von möglichst vielen Gemeindehelfern und von
Sozialarbeit.
Doch wie so häufig
durchkreuzt uns die Bibel solch streitbares, aber auch bequemes Denken
in Alternativen.
Nur schon das
Wort Diakonie, griechisch „diakonia“, zu deutsch: „Dienst“, kann
nicht für die eine oder andere Seite allein reklamiert werden.
Im griechischen
Text der Apostelgeschichte spricht Lukas von der „diakonia des
Wortes“, also vom Dienst des Gebetes und der Verkündigung, und von
der „diakonia“ bei der Nahrungsmittelversorgung der Witwen.
Das also macht
gerade christliche Existenz aus, dass sie eben beide Seiten im Menschen
ernst nimmt: die geistliche und die körperliche, das Wachsen im Glauben
und das soziale Engagement.
Noch mehr: Das
eine ist vom anderen gar nicht zu trennen. Die verschiedenen Arten von
Dienst sind Teil eines Ganzen.
Verkündigung
ohne soziales Handeln der christlichen Gemeinde bleibt leeres Wort ohne
Glaubwürdigkeit und untersteht Jesu Verdikt: „Ich war hungrig und du
hast mir nicht zu essen gegeben“.
Und soziales
Handeln ohne Gottesglauben als Substanz, wird leicht zur
Sozialtechnologie, in welcher der Mensch zwar sozial verwaltet, aber in
seinem Menschsein nicht mehr wahrgenommen und nicht mehr ernst genommen
wird.
Und so sucht man
denn in Jerusalem auch nach sieben Menschen, die einen guten Leumund
haben und fachlich fähig sind, gerecht Lebensmittel zu verteilen, die
aber gleichzeitig auch „voll Geist und Weisheit“ sind.
Die Apostel sehen
ihre eigene Diakonia, ihren Dienst, weiter vor allem in Gebet,
Gottesdienst und Verkündigung.
Wir wissen, dass
Stephanus, einer der sieben Gewählten, später getötet, brutal
gesteinigt wird. Er wurde damit zum ersten christlichen Märtyrer.
Lukas, der Verfasser der Apostelgeschichte, erzählt, er habe seinen
Anklägern aber vorher noch eine Predigt gehalten, die mit jedem Verkündiger
des Wortes Gottes mithalten kann.
Es ist also nicht
so, dass Gemeindehelferinnen und Gemeindehelfer in der verbalen Verkündigung
nichts zu suchen hätten. Bloss, in der Regel wird ihr Dienst eine
andere Form haben als die der Theologinnen und Theologen auf der Kanzel.
Es ist auch nicht
so, dass Pfarrerinnen und Pfarrer keine soziale Arbeit betreiben dürften
oder nichts mit Diakonie zu tun hätten. Bloss, in der Regel wird ihre
Diakonie, ihr Dienst vor allem jene Form haben, für die sie als
Theologen an der Universität speziell ausgebildet worden sind.
Zum
Dienst an Gott und den Mitmenschen gerufen und berufen
Und das gilt denn
auch für uns Christinnen und Christen allesamt: Wir sind alle zum
Dienen an Gott und den Mitmenschen gerufen und berufen. In welcher Form
wir das vorwiegend tun, das hängt von unseren individuellen Gaben, von
unserer Ausbildung und von unserer Persönlichkeit ab. Wir können
diesen Auftrag Gottes an unseren Mitmenschen nicht einfach an die Profis
delegieren. Aufgrund ihrer Ausbildung wissen sie vielleicht manches
besser. Aber im Umgang mit griechisch sprechenden Witwen findet
vielleicht manche Nicht-Ausgebildete die angemesseneren Worte als
mancher Profi.
In Jerusalem hat
man sich also entschieden, das eine zu tun und das andere nicht zu
lassen. Und beides als gleichberechtigte Dienste an den Menschen zu
verstehen.
So legen die
Apostel denn auch den sieben Neuen die Hände auf, Zeichen dafür, dass
auch sie einen geistlichen Dienst tun, dass auch ihnen Gottes Geist
gegeben ist, und dass sie berufen sind, diesen Christusgeist der Liebe
an die Mitmenschen weiterzugeben.
Es ist nicht
Zufall, dass der letzte Vers unseres Abschnittes dann davon erzählt,
dass das Wort Gottes wuchs, und die Zahl der Jünger sich sehr mehrte in
Jerusalem, so sehr, dass sogar eine grosse Zahl jüdischer Priester zum
christlichen Glauben fand.
Wo eine
christliche Gemeinde sowohl die ihr anvertraute Botschaft im Wort
weitergibt, als auch sie in der Solidarität mit den in der Welt Übersehenen
lebt, da ist sie glaubwürdig, da vertrauen ihr die Menschen.
Auch im 21.
Jahrtausend. Auch hier in St. Gallen.
Amen.