Festgottesdienst der
Evangelisch-reformierten Kirchgemeinde Flawil
Sonntag, 8. Mai 2011, Kirche Feld, Flawil
Predigt Pfr. Dr. Dölf Weder, Kirchenratspräsident
A) Die neue Kirche im Dorf
Liebe Mitchristinnen und Mitchristen,
Gestern war sie 100 Jahre alt, eure Kirche Feld, der Grund des heutigen
Gemeindefestes und dieses Festgottesdienstes.
Die Evangelischen Flawiler haben sich vor 100 Jahren
zusätzlich zur Kirche Oberglatt eine zweite Kirche geleistet. Ihre
Hauptkirche sollte im Dorf stehen; dort, wo die Menschen leben. Das war
ihr grosses Anliegen.
Mit den Menschen im Dorf als Kirche unterwegs sein,
ist nicht nur eine Frage der Geographie oder des Standorts eines
Kirchengebäudes. Es ist auch heute die ständige Herausforderung, nahe an
den Menschen zu sein, als christliche Gemeinde miteinander das Leben zu
teilen; beides: das Alltagsleben wie das Feiern an Sonntagen und Festen.
Unsere Kantonalkirche drückt diese Aufgabe aus in
ihrer Vision, eine Kirche
„nahe
bei Gott – nahe bei den Menschen“ zu sein. Diese Vision haben
offensichtlich schon eure Vorfahren verfolgt, als sie sich vor 100
Jahren entschieden, eine neue Kirche im Dorf zu bauen.
Und wie viel Leben hat diese Kirche hier nicht
inzwischen beherbergt! Sie war und ist Raum für die all-sonntäglichen
Gemeindegottesdienste. In ihr haben sich viele junge Paare versprochen,
ihr Leben fürderhin gemeinsam zu gehen und miteinander in Liebe
verbunden zu bleiben.
Etwas später haben sie dann vielleicht mit
grosser Freude ihre Kinder hier zur Taufe getragen und sie Gottes Schutz
anbefohlen.
Die Kinder wurden älter und schliesslich erwachsen. In
der Konfirmation nahmen sie in dieser Kirche selber Stellung zum
Glauben.
Dieser Raum war und ist aber auch ein Ort der Trauer,
wenn von lieben Menschen Abschied genommen werden muss. Dann erinnert
sie uns daran, dass wir auch im den dunklen Schluchten des Lebens nicht
allein gelassen sind, sondern dass unser guter Gott uns begleitet und
uns trägt - sogar dann, wenn wir ihn nicht mehr zu spüren vermögen.
Eine Kirche ist eben mehr als ein blosses
Steingehäuse. Sie ist Heimat für Leben. Leben in all seinen Aspekten,
den fröhlichen wie den traurigen.
Nun waren die Flawiler schon immer durchaus sparsame
Leute. Sie achteten auch damals auf die Kosten ihres neuen Gotteshauses.
Aber ihre neue Kirche im Dorf sollte auch etwas
Spezielles werden: Ein imposanter Bau, der schon durch sein
Erscheinungsbild Gott verkündigt. Die Rosette über dem Eingang gibt das
Ziel und die Richtung vor: „Dein Reich komme“.
Man entschied sich darum nicht für einen gesichtslosen
Dutzendbau, sondern setzte auf modernste zeitgenössische Architektur.
Das war zur damaligen Zeit der Jugendstil, wie er beispielsweise heute
noch in formidablen architektonischen Meisterwerken im Herzen von Prag
zu bewundern ist.
Heute mag dieser Stil nicht mehr allen von uns
gefallen, aber damals war er absolut hip. Ein Hauch der grossen Welt
also, mitten im Dorf Flawil.
Ich verbinde diese Kirche hier mental stets mit der
Kirche, in der ich selber aufgewachsen bin: mit der Heiligkreuzkirche in
St. Gallen Tablat, eine Jugendstilkirche ähnlichen Alters und Aussehens.
Und noch etwas verbindet mich mit diesem Gotteshaus:
Meine Grosseltern Rietmann lebten hier gerade vis à vis. Im jetzt
abgebrochenen Haus betrieb mein Grossvater eine Velowerkstatt. Er
schenkte mir auch mein erstes Velo, dem ich bis in meine Studienjahre
treu blieb.
Wenn ich bei meinen Grosseltern und beim von mir so
geliebten Schäferhund Benno zu Gast war, erlebte ich den Klang der
mächtigen Kirchenglocken und war beeindruckt vom grossen Kirchengebäude
und seinem wunderschönen Turm.
Übrigens habe ich mir hier in Flawil auch zum ersten
Mal in meinem Leben ganz zünftig die Finger verbrannt.
Ich wollte meinem Grossvater nämlich nicht glauben,
dass ein Lötkolben zum Veloreparieren wirklich heiss ist. Alle meine
Finger waren anschliessend an den Praxistest doppelt so dick wie vorher
und von meiner Grossmutter kunstgerecht in dicke Bandagen eingewickelt.
Heute assoziiere ich die Kirchgemeinde Flawil mit zwei
besonderen Programmen:
Das erste ist der B-Treff im Bahnhof. Die beiden
Kirchgemeinden hier in Flawil haben früh die schwierige Situation
von armutsbetroffenen Menschen gesehen. Sie wissen, dass Diakonie ganz
zentral zu jeder christlichen Gemeinde gehört.
An diesem B-Treff gefällt mir besonders, dass diesen
Menschen nicht nur einfach wohlmeinend geholfen wird. Nein, man befähigt
sie, ihr Leben trotz Armut in die eigenen Hände zu nehmen, aktiv zu
werden und Initiative zu ergreifen.
Dass die Menschen vom Flawiler B-Treff mit dieser
Philosophie auf der Marktgasse in St. Gallen dann grad noch einen
Weltrekord aufgestellt haben, war dann wirklich die Krönung. Das
Guinness Buch der Rekorde
hat es mit einer Urkunde bestätigt: Sie haben das grösste Rührei der
Welt gekocht, gerührt aus rund 8‘000 Eiern!
Eine wohlverdiente Frucht dieser Aktion war dann
zusätzlich, dass eine Vertretung des B-Treffs an einer grossen
Armutskonferenz in Bern ihre Ideen zur Armutsbekämpfung Bundesrat Didier
Burkhalter und seinen Experten persönlich vortragen durften.
Das ist auch Kirche mitten im Dorf! Nicht aus Stein,
nicht 100 Jahre alt, aber mindestens ebenso wichtig und gottesnah.
Die zweite Assoziation, die bei mir die Kirchgemeinde
Flawil weckt, ist Musik. Hier in Flawil gibt es ein reges Chorleben für
jung und alt. Das gemeinsame Musikmachen trägt ganz wesentlich zum
Gemeindeleben bei.
Ihr Flawiler habt dabei keine Angst vor der Vielfalt
der Musikstile. Da leben Gospel und Populäre Musik ganz friedlich neben
der Klassik und der traditionellen Kirchenmusik.
Es spricht ja nicht jedermann der gleiche Musikstil
an. Also braucht es eine Vielfalt von Musik. Nur dann werden viele
Menschen in ihrem Herzen angesprochen.
Und dass euch das auch als Kirchgemeinde gelingt,
zeigen ja beispielsweise eure Gospelgottesdienste, von denen ich selber
bereits an vielen Orten in der Schweiz geschwärmt habe.
Ich finde es darum schön, und ausgesprochen passend,
dass ihr die Jubiläumsfeierlichkeiten bereits gestern abend angefangen
habt. Und zwar mit einer grossen „Nacht der Chöre“. Mit acht Chören aus
Flawil und Umgebung.
Bei diesem wichtigen Thema Musik möchte ich noch einen
Augenblick verweilen und dazu einen Blick in die Bibel werfen. -
Auf eine wunderschöne Geschichte im Alten Testament, die mich kürzlich
wieder neu gefesselt hat.
Sie spielt etwa 1000 vor Christus, also vor 3000
Jahren. Und sie erzählt,
wie der später berühmteste jüdische König, David, als junger Bursche
seine Karriere am Königshof seines Vorgängers Saul begonnen hat: Nämlich
als Leier-Spieler, als Amateur-Musiker.
König Saul ging es nicht mehr gut. Er litt an
Schwermut und Depressionen, hatte ständig Probleme mit den feindlichen
Philistern und fühlte sich von Gott verlassen.
Da erinnerte sich seine Umgebung an die wohltuende
Wirkung von Musik und schlug Saul vor, für ihn einen Saitenspieler zu
engagieren.
Mit Sauls Einverständnis fiel die Wahl auf den jungen
Hirtenbuben David. Die Bibel schreibt von ihm: „Er war bräunlich, hatte
schöne Augen und eine gute Gestalt“.
David gewinnt bald Sauls Herz. Er wird auch sein
Waffenträger, heiratet eine von Sauls Töchtern und entwickelt eine tiefe
Freundschaft mit Jonathan, Sohn von Saul.
Leider wissen wir, dass diese gute Anfangszeit später
in Neid und Hass auf David umschlägt. Jonathan bleibt David
unerschütterlich treu, stirbt aber schliesslich zusammen mit Saul in
einer Schlacht gegen die Philister.
Ich lese euch diese Geschichte vor. Sie findet sich im
16. Kapitel des 1. Buches Samuel im Alten Testament.
„Aber von Saul war der Geist Gottes gewichen, und
ein schwermütiger Geist, den Gott sandte, ängstigte ihn. Da sagten Sauls
Berater zu ihm: „Eine Schwermut, die von Gott kommt, quält dich. Unser
Herr braucht nur zu reden, seine Knechte stehen bereit. Sie werden einen
Mann suchen, der auf der Leier zu spielen versteht. Und wenn dann ein
böser Geist von Gott über dich herfällt, mag der Mann mit seiner Hand in
die Saiten greifen, und es wird besser mit dir werden.“
„Ja“, erwiderte Saul, „seht euch nach einem um, der
das Saitenspiel versteht, und bringt ihn zu mir.“ Da antwortete einer
der jungen Männer: „Ich kenne einen Sohn des Isai in Bethlehem, der kann
spielen. Er ist ein tapferer Mann, tüchtig zum Kampf, des Wortes mächtig
und schön von Aussehen, und der Herr ist mit ihm.“
Und Saul sandte Boten zu Isai: „Sende deinen Sohn
David zu mir, den Schafhüter!“ Da nahm Isai einen Esel, dazu Brot, einen
Schlauch Wein
und ein Ziegenböcklein und sandte es Saul durch seinen Sohn David. So
kam David zu Saul und trat in seinen Dienst, und Saul gewann ihn sehr
lieb und machte ihn zu seinem Waffenträger Und er sandte zu Isai und
liess ihm sagen: „Lass David in meinen Dienst treten, ich liebe und
schätze ihn.“
So oft nun der Geist der Schwermut von Gott über
Saul kam, nahm David die Harfe und griff mit der Hand in die Saiten. So
wurde es Saul leichter, und der böse Geist wich von ihm.“
(1. Samuel 16, 14-23; Übersetzung Jörg
Zink)
Nun könnte natürlich zu dieser Geschichte sehr vieles
gesagt werden.
Mir ist es heute einfach ein Anliegen, in Anknüpfung
an unser Fest auf die wohltuende und wichtige Funktion von Musik im
christlichen Leben hin zu weisen.
Wie viele Menschen haben nicht in schweren Zeiten wie
Saul in gefühlvoll vorgetragener Musik Trost gefunden. Und wie viele
Menschen haben nicht in glücklichen Zeiten ihre Freude in tief
empfundener Jubelmusik ausgedrückt.
David hat die Musik sein ganzes Leben lang weiter
gepflegt, sei es während seiner Zeit als Kriegsheld oder später als
König.
Er gilt bis heute als der grösste Psalmdichter der
Bibel. Sehr viele Psalmen und Lieder im Alten Testament werden ihm
zugeschrieben. Und unzweifelhaft hat er auch selber gesungen und sich
auf der Leier begleitet.
Dabei ist bei Davids musikalischem Schaffen etwas
auffällig, was die berühmte Gospelsängerin Mahalia Jackson einmal in der
Abgrenzung zwischen säkularem Blues und christlichem Gospel formuliert
hat.
Davids Musik rechnet mit Gott, rechnet mit Gottes
helfender, tröstender und zurecht bringender Kraft.
Mahalia Jackson - sie lebte 1911 bis 1972 –
formulierte das so:
„Es hat mich immer froh gemacht, Gospelsongs zu
singen. Ich fange an zu singen und gleich fühle ich mich gut. Wenn man
mit dem Blues fertig ist, hat man nichts, woran man sich halten kann.
Ich sage den Leuten: Wer nur den Blues singt, ist wie einer, der in
einer tiefen Grube sitzt und um Hilfe schreit; und das ist einfach nicht
meine Situation.“
Theo Lehmann, der eine Biographie über Mahalia Jackson
schrieb,
ergänzt:
„Freilich war sie mit ihren Gospel Songs in der
gleichen Ausgangssituation wie der Bluessänger, wenn sie wie Daniel in
der Löwengrube aus der Tiefe des Elends um Hilfe rief. Der Unterschied
bestand nur darin, dass sich ihr Hilfeschrei an die bestimmte Person von
Jesus richtete, der selbst in die Tiefen des menschlichen Elends hinab
gestiegen ist und seine Hilfe denen, die ihn anrufen, verheissen hat.“
Es geht also um Musik, die einen göttlichen Grund und
ein göttliches Gegenüber hat.
Damit, liebe Flawiler, sind wir jetzt wieder zurück
bei unserem Fest.
Was uns als christliche Gemeinde ausmacht, ist, dass
wir uns mit unserer Freude - wie zu anderen Zeiten mit unseren Schmerzen
- an ein Gegenüber wenden.
Ob wir eine Kirche bauen, einen B-Treff führen oder
Musik machen, all das hat immer ein Gegenüber: nämlich unseren guten
Gott.
Ein Gott, der nicht einfach weit entfernt im siebten
Himmel wohnt. Sondern ein Gott, der sich uns in einem Menschen selber
gezeigt, mit uns gelebt hat, und immer noch mit uns lebt.
Jesus Christus hat gezeigt und gelebt, wie Gottes
Liebe uns Menschen zugewandt ist und uns trägt. - In allen Situationen
des Lebens: In Freud und Leid, im Gelingen und im Scheitern, in Schuld
und Vergebung.
Dass wir alle, Flawiler und Auswärtige, auch weiterhin
in diesem Geiste leben und in diesem Geiste unseren Mitmenschen
begegnen, das wünsche ich auch an diesem Festtag uns allen von Herzen.
Amen.