Festgottesdienst der Evangelischen
Kirchgemeinde Rorschach
Sonntag, 6. Juni 2004
Predigt Pfr. Dr. Dölf Weder, Kirchenratspräsident
Liebe Jubiläumsgemeinde
150 Jahre Evangelische Kirchgemeinde Rorschach feiert
ihr heute. Und 100 Jahre sind es her, seit ihr eure grosse und schöne
Kirche hier einweihen durftet. Ein schöner und fröhlicher Tag.
Zu diesem Fest darf ich euch die herzlichen Grüsse
unseres kantonalen Kirchenrates mitbringen, verbunden mit seinen
Segenswünschen für die nächsten 100 oder 150 Jahre.
Nun standen aber bereits eure Vorfahren in einer langen
Abfolge von reformierten Rorschacher Christen und von Christen und
Christinnen überhaupt. Verglichen mit diesen 2000 Jahren werden eure 100
und 150 Jahre dann doch auch wieder etwas relativiert. Was aber nicht
heisst, dass es heute keinen Grund zum Feiern gibt! - Und vor allem Grund
zur Dankbarkeit.
Der christliche Glaube kam ja bereits in den ersten
Jahrhunderten unserer Zeitrechnung in diese Gegend. Unter diesen
Glaubenszeugen ist für das frühe 7. Jahrhundert Kolumban zu nennen. Nach
ihm ist die katholische St. Kolumbanskirche benannt. In den
Zwanzigerjahren des 16. Jahrhunderts, also bereits in den frühen Jahren
der Reformation, haben sich eure Vorfahren dann für den reformierten
Glauben entschieden. Dabei legten sie durchaus auch mal unzimperlich Hand
an. Zum Beispiel als sie am 30. November 1528 in die Rorschacher
Kolumbanskirche eindrangen und dort die Bilder beseitigten und die Altäre
zertrümmerten.
Ich finde es umso schöner und ein wichtiges Zeichen der
Versöhnung, dass heute gerade der Kirchenchor St. Kolumban in diesem
Gottesdienst singt. Die Zeiten haben sich sichtbar geändert.
Die Gegenreformation brachte eine weitgehende
Rekatholisierung der Gegend. Abt Diethelm Blarer von Schloss Wartensee,
also ein gebürtiger Rorschacher, spielte dabei auf katholischer Seite eine
wichtige Rolle.
(Nebenbei gesagt: Dass heute sein
Schloss Wartensee
sich ausgerechnet im Besitz unserer
Evangelisch-reformierten
Kantonalkirche befindet, ist natürlich eine charmante Ironie der
Geschichte.)
War in dieser Zeit am Anfang durch einen Landfrieden
noch die Durchführung evangelischer Gottesdienste garantiert, so änderte
sich das innert Kurzem. 1532 beispielsweise wurde im Auftrag des Abtes der
reformierte Prädikant Walter Klarer gefangen genommen und in den Kerker
des St. Anna-Schlosses geworfen.
Nun, die düsteren Zeiten haben sich glücklicherweise
geändert. Weil zur evangelischen Kirchgemeinde Rorschach früher auch noch
Goldach, bis Mörschwil und Steinach gehörten, haben eure Altvordern vor
100 Jahren diese heutige, grosse Kirche gebaut. Und sie gleich mit dem
damals grössten Geläute in der ganzen Schweiz versehen. So konnten auch
alle weit entfernten Gemeindeglieder hören, dass sie zum Gottesdienst
gerufen sind.
Auch heute noch gehört euer Geläute zu den grössten in
der Schweiz. Die Kirchgemeinde Goldach mit Mörschwil und Steinach aber hat
sich vor gut 50 Jahren verselbständigt. Und so kommt es, dass ihr hier in
Rorschach besonders fleissig den Gottesdienst besuchen müsst. Unter
anderem, um diese grosse Kirche zu füllen, und zweitens, weil euch die
kräftigen Glocken am Sonntag sowieso aus dem Schlafe läuten.
Spass beiseite, liebe Gemeindeglieder. Mich interessiert
Geschichte immer dann besonders, wenn man aus ihr etwas für heute lernen
kann. Wenn sie einen anregt, über sich selber und über das heutige Morgen
nachzudenken.
Als ich das in meiner Predigtvorbereitung tat, wurde mir
wieder einmal deutlich, wie wechselhaft die Geschichte des christlichen
Glaubens immer wieder verlaufen ist, auch hier in Rorschach.
Da gibt es glückliche Phasen des Aufbaus, der
Gemeindebildung, des Engagements für Kirchenbauten und Glockengeläute. Und
dann gibt es Phasen des Umbruchs, der Unsicherheit, ja der Verfolgung.
Das findet man bereits in der Bibel. Sie ist voll von
Geschichten des Auszuges. Denken wir an Abraham, der sein Vaterland
verlassen musste. An Josef, der von seinen Brüdern nach Ägypten verkauft
wurde. An den Auszug der Israeliten aus Ägypten in die Wüste. An Ruth, die
sich plötzlich ganz allein in einem ihr fremden Land fand.
Und dann an die wechselvolle Geschichte der Königszeit
in Israel, endend im babylonischen Exil. Später die römische Besatzung von
Palästina.
Auch Jesus lebte nicht still und leise in Nazareth,
sondern war im ganzen Land unterwegs und starb schliesslich in der
Hauptstadt den Kreuzigungstod.
Später dann die Apostel: Aufbruch aus Israel, hinaus in
die ganze damals bekannte westliche Welt, zur Verkündigung des
Evangeliums.
Es ist eigenartig, dass wir Christen heute unseren
christlichen Glauben und unser Kirchesein immer wieder als etwas eher
Bewahrendes, die Tradition Verteidigendes, Sicherheit Versprechendes
erleben. In der Geschichte und in der Bibel jedenfalls war das gerade
nicht so.
Und wenn wir in die Zukunft schauen, sind wir ja auch
gar nicht so sicher, wie es denn mit unseren Kirchen in der Schweiz
weitergehen wird. Da warten ganz grosse Herausforderungen auf uns.
Herausforderungen an unseren Glauben und an unser Lebensengagement für
diesen Glauben in der heutigen Zeit.
Und darum ist vielleicht gerade so ein fröhliches
Jubiläumsfest wie heute auch eine Chance, sich auf die Herausforderungen
des christlichen Glaubens, auf die Herausforderungen christlichen Lebens
zu besinnen.
Glauben zu leben bedeutet eben nicht einfach Friede,
Freude, Eierkuchen; bedeutet nicht einfach Tradition und Sicherheit.
Hätten unsere Vorfahren so gedacht, gäbe es heute wohl
keine Jubiläumsfeier, keine Evangelische Kirchgemeinde Rorschach in ihrer
heutigen Form und auch keine so grosse und schöne Kirche.
In der Textlesung haben wir vorher gehört, dass wir uns
als lebendige Steine in das Haus einbauen lassen sollen, das Gott baut und
dessen Eckstein Jesus Christus ist (1. Petr. 2, 4-5).
Ich möchte euch jetzt einen Text aus dem Lukasevangelium
mitgeben, der davon spricht, was es bedeutet, Jesus Christus nachzufolgen.
Es geht hier zwar um Jüngerschaft von einzelnen Menschen, und dies zur
Zeit Jesu.
Die Situation ist heute anders. - Oder vielleicht doch
gar nicht so sehr?
Es ist ein sehr radikaler Text. Er könnte einen
erschrecken und fragen machen: Möchte ich das denn wirklich? Möchte ich
wirklich diesem Jesus Christus zugehören? In meinem Leben mit ihm
unterwegs sein?
Bin ich wirklich bereit, einen Weg zu gehen, der mir
nicht einfach Sicherheit fürs Leben verspricht? Sondern mich immer wieder
herausfordert; mich in den Dienst an anderen Menschen stellt; unterwegs
behält?
Ich lese Lukas 9, 57-62 in der Zürcher Übersetzung;
Jesus ist mit Jüngern und ihm Nachfolgenden unterwegs:
Und als sie wanderten, sagte einer auf dem Wege zu
ihm: Ich will dir nachfolgen, wohin du auch gehst. Und Jesus sprach zu
ihm: Die Füchse haben Gruben und die Vögel des Himmels haben Nester; der
Sohn des Menschen dagegen hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen kann.
Er sprach aber zu einem andern: Folge mir nach! Der
antwortete: Erlaube mir, zuvor hinzugehen und meinen Vater zu begraben.
Da sprach er zu ihm: Lass die Toten ihre Toten begraben; Du aber geh hin
und verkündige das Reich Gottes.
Es sagte aber auch ein anderer: Ich will dir
nachfolgen, Herr; Zuvor jedoch erlaube mir, von denen, die in meinem
Hause sind, Abschied zu nehmen. Da sprach Jesus zu ihm: Niemand, der
seine Hand an den Pflug legt und zurück blickt, ist tauglich für das
Reich Gottes.
Um drei Menschen geht es in diesem Text. Sie sind noch
nicht in einer Jubiläumssituation wie wir hier heute. Aber auch bei ihnen
geht es um die Frage, ob sie denn ihr Leben mit diesem Jesus Christen
verknüpfen wollen, und wenn ja, mit welchen Konsequenzen, wann und in
welcher Form.
Drei Menschen auf ihrem Lebensweg, ohne Namen, drei
verschiedene Situationen. Herausgegriffen quasi stellvertretend für
Menschen vor der Herausforderung eines Glaubensweges.
Der erste ist Feuer und Flamme für die Sache Jesu.
Begeistert spricht er zu Jesus von seinem Entscheid: "Ich will dir
nachfolgen, wohin du auch gehst."
Stellvertretend steht er da für alle Menschen und
Christen, die sich von Jesus begeistern lassen, die Feuer und Flamme sind
für den Glauben, die Engagement zeigen, sich einsetzen wollen für Gott und
für ihre Mitmenschen.
Jesus weist sie nicht zurück. Aber er macht darauf
aufmerksam, dass der Weg mit ihm kein Höhenweg und kein Spaziergang ist,
kein Versprechen für permanentes Glück und für Sicherheit im Leben:
"Die Füchse haben Gruben und die Vögel des Himmels haben Nester; der Sohn
des Menschen dagegen hat nichts, wo er sein Haupt hinlegen kann."
Der Zweite wird von Jesus gerufen: "Folge mir nach!"
Der Ruf zur Nachfolge tritt vielfach an uns heran, ohne
dass wir ihn gesucht hätten. Oft sind es Menschen, die auf uns zu treten
und sagen: Du, wir brauchen dich. Wir haben den Ruf nicht gesucht, aber
jetzt steht er im Raum. Wie antworten wir?
Unser zweiter Mensch reagiert mit einem
Kompromissvorschlag: Ich komme, ich mache mit - nur zuvor … und es folgt
eine menschlich, ja biblisch sehr wichtige Aufgabe mit Vorrang:
"Erlaube mir, zuvor hinzugehen und meinen Vater zu begraben."
Der Ruf ist ausgesprochen, wir antworten: Ja schon, aber
zuvor habe ich noch etwas Wichtigeres zu tun.
Der Dritte bietet sich selber an: "Ich will dir
nachfolgen, Herr."
Doch sein Angebot hat ein „Jedoch“, ein „Aber“: "Ich
will dir nachfolgen, Herr. Zuvor jedoch erlaube mir, von denen, die in
meinem Hause sind, Abschied zu nehmen."
Einleuchtend, nicht war, unsere Aber. Gegen das
Abschiednehmen von Familie und Verwandten kann man schlecht etwas
einwenden.
Jesus sagt auch nichts dagegen. Aber er verweist nach
vorne, auf etwas noch Grösseres, auf das, worauf es wirklich ankommt: Auf
das Reich Gottes. Und das liegt vorne, nicht hinten: Da sprach Jesus zu
ihm: "Niemand, der seine Hand an den Pflug legt und zurück blickt, ist
tauglich für das Reich Gottes."
Auch nicht, wenn er 150 Jahre Kirchgemeinde feiert. Und
damit erinnert uns Jesus gleich auch an die Frau von Lot im Alten
Testament. Weil sie zurück blickte, erstarrte sie zur Salzsäule. Das
sollten wir uns gerade auch als Kirche und Kirchgemeinde gut merken.
Wenn man mit der Hand am Pflug zurück blickt, wird die
Furche krumm. Was zählt, ist der Blick nach vorne, ist unsere Ausrichtung
auf das Reich Gottes, auf das, was Gott mit uns und mit der Welt vorhat.
Das gilt auch heute. Das gilt für uns als einzelne
Menschen, aber auch für uns als ganze Gemeinde und Kirche.
Lasst uns darum zum Schluss noch etwas überlegen, was es
denn für uns als heutige Kirche bedeuten könnte, die Hand an den Pflug zu
legen, nach vorne zu schauen und uns auf das Reich Gottes auszurichten.
Ihr wisst es alle aus dem Kirchenboten: Unsere
Kantonalkirche hat sich 2001 zusammen mit allen St. Galler Kirchgemeinden
und Vollzeitern überlegt, was für eine Kirche wir im Jahr 2010 sein
möchten.
Wir haben nach unserem Auftrag und den sich daraus heute
ergebenden Schwerpunkten gefragt.
Entstanden ist die Vision „St.
Galler Kirche 2010“. An deren Verwirklichung wird in der
Kantonalkirche und in vielen Kirchgemeinden seither sehr engagiert und
zielbewusst gearbeitet; ich nehme an, auch hier in Rorschach.
Die gemeinsame Vision ist in einem kurzen Wort
zusammengefasst, das inzwischen weit herum bekannt und vielen Gemeinden
zum Leitstern geworden ist. Ich nehme an, auch ihr kennt es alle.
Es lautet: Wir wollen eine Kirche sein „nahe
bei Gott – nahe bei den Menschen“.
Um diese beiden Dinge geht es, wenn wir von Ausrichtung
auf das Reich Gottes sprechen.
Es geht darum, dass wir in all unseren Tätigkeiten und
in all unserem Denken nahe bei den Menschen sind.
Ich sage immer: Nahe bei den real existierenden
Menschen, so wie wir und so wie unsere Zeitgenossen nun einmal in
Wirklichkeit sind. Mit all unseren Schwächen und Problemen, aber auch mit
all unseren Gaben und grossartigen Seiten.
Wir sollen uns als Kirche und Gemeinde fragen, was
Menschen heute wirklich bewegt, wie sie leben, was sie brauchen, was sie
beschäftigt. Wie sie lieben und wie sie schuldig werden.
Das ist der Ausgangspunkt unserer Arbeit als Gemeinde.
Und nicht irgend ein Ideal, wie ein guter Mensch, wie ein guter Christ,
wie ein guter Kirchgänger idealerweise sein müsste, und an welchen
kirchlichen Aktivitäten er eigentlich teilnehmen müsste.
Jesus hat das genau so gemacht. Er wanderte auf den
Wegen und Strassen Palästinas herum. Dabei hat er die Menschen so gesehen
und so genommen, wie sie eben waren. In ihrer ganzen Schönheit und in
ihrem ganzen Elend.
Dann aber ist er mit ihnen einen Weg gegangen. Mit den
Einen einen Weg von mehreren Jahren Dauer, mit Anderen einen Weg von nur
wenigen Minuten.
Während dieser Zeit war Jesus diesen Menschen ganz nahe.
In dieser längeren oder kürzeren Zeit hat er diese Menschen mit Gott in
Beziehung gebracht. Er hat ihnen geholfen, näher bei Gott zu sein, und
damit auch näher bei sich selbst und näher bei ihren Mitmenschen.
Das konnte Jesus, weil er selber ganz nahe bei Gott war.
Und genau das ist darum die andere Hälfte unseres
Auftrages als Kirche: Kirche, Gemeinde nahe bei Gott zu sein, für
den Glauben einzustehen, und die real existierenden Menschen von heute mit
Gott in Verbindung, mit Gott in eine Beziehung zu bringen. Das bedeutet
für diese Menschen auch eine neue Beziehung zu sich selber, und eine neue
Beziehung zu ihren Mitmenschen.
Wie wir das genau anstellen, welche Aktivitäten wir
entwickeln, wie wir uns organisieren und finanzieren, wer was tut, das
alles ist wichtig. Aber es ist sekundär.
Unser Blick ist zuerst einmal nach vorne gerichtet auf
das Reich Gottes. Das heisst auf die Menschen und auf Gott, und auf die
Beziehung zwischen ihnen. Beides gleichzeitig, Mensch und Gott, Gott und
Mensch. Das eine nicht ohne das andere.
Das ist unser Auftrag als Kirche, unser Auftrag als
Gemeinde Christi, unser Auftrag als Kirchgemeinde Rorschach.
Und damit komme ich jetzt zurück auf unseren Bibeltext
und auf die drei Menschen konfrontiert mit dem Ruf Jesu zur Nachfolge.
Gerade auch heute, gerade nach 150 Jahren Kirchgemeinden
ruft uns Jesus als Einzelne und als Gemeinde zu: Folge mir nach! - Folge
mir nach!
Es gibt verschiedene Arten, diesen Ruf Jesu zu
beantworten. Wir haben dazu drei Beispiele gehört.
Jedes von uns hier in dieser Kirche, beantwortet diesen
Ruf Jesu auf seine ganz spezielle Weise.
Auch jede Kirchgemeinde beantwortet den Ruf Jesu auf
ihre je ganz spezielle Weise.
Das ist gut so.
Aber eines ist wichtig: Dass wir den Blick nicht zurück,
sondern nach vorne richten. Nach vorne auf das Reich Gottes. Auf ein Leben
„nahe
bei Gott – nahe bei den Menschen“.
Amen.