Reformationsgottesdienst Evang.-ref.
Kirchgemeinde St. Gallen C, Kirchkreis St. Georgen
Sonntag, 4. November 2000, Kirchgemeindehaus St. Georgen
Predigt Pfr. Dr. Dölf Weder, Kirchenratspräsident
Goldenes Licht in einer herbstlich-düsteren
Wohnstube
Liebe Gemeinde
hier in St. Georgen
Manche Bibeltexte sind, wie wenn in eine herbstlich-düstere Wohnstube
plötzlich die goldenen Strahlen einer warmen Oktobersonne fallen. Soeben
noch war die Stimmung gedämpft, schien das Leben etwas depressiv dem
Winter zuzustreben. Und dann huscht plötzlich dieses warme Goldlicht ins
Halbdunkel herein, verbreitet ein Gefühl von Geborgenheit, von
Zuversicht und Wärme.
Zu dieser Art von
warmen Goldlicht-Bibelstellen gehört für mich auch unser heutiger
Predigttext:
„Sorget euch
nicht um euer Leben,
was ihr essen oder was ihr trinken sollt,
noch um euren Leib, was ihr anziehen sollt!
Ist nicht das Leben mehr als die Speise
Und der Leib mehr als die Kleidung?
Sehet die Vögel des Himmels an!
Sie säen nicht und ernten nicht
und sammeln nichts in Scheunen,
und euer himmlischer Vater ernährt sie doch. ...
Betrachtet die Lilien des Feldes, wie sie wachsen!
Sie arbeiten nicht und spinnen nicht;
ich sage euch aber, dass auch Salomo in all seiner Pracht
nicht gekleidet war wie eine von ihnen.“ (Matthäus 6, 25-33)
Wem würde es da
nicht wohler ums Herzen? Wer fühlte sich da nicht plötzlich etwas
entlastet von den drängenden Aufgaben und Sorgen des Lebens? Es wird
etwas spürbar von der Geborgenheit im Glauben, von einer Hand, die uns
trägt und für uns sorgt, von einem Freund und Bruder, der uns begleitet,
von einem göttlichen Vater, der für uns da ist.
Meine erste bewusste Begegnung mit diesem „Sorget euch nicht“-Text hatte
ich als Cevi-Jüngling in einem Gottesdienst in der kleinen Kirche von La
Punt im Engadin. Es war einer jener leuchtend blau-goldenen Tage, wie
man sie für mein Empfinden nur im Engadin antrifft.
Die Predigt hielt
der alte Pfarrer Signorell. Er war eine markante Engadiner-Gestalt,
würdig pastorale Haltung alter Schule, über den Schultern den wehenden
Bündnertalar. Und er sprach ein markiges Bündnerdeutsch. „Sehet die
Lilien auf dem Felde!“
Ich weiss noch, wie ich nach dem Gottesdienst, Inn und Chamuera
überschreitend, zu den blühenden Wiesen und Wassern im „Bädli“ wanderte.
Ich begrüsste alle Blumen am Weg als Lilien auf dem Felde und wusste sie
und mich so richtig geborgen in der gütigen Hand Gottes - ein Stück
Franziskus von Assisi Gefühl.
„Sorget euch
nicht!“ – ein Satz, der wie warmes, goldenes Licht aus der Ewigkeit in
uns Vertrauen, Geborgenheit und Hoffnung wecken will. Nicht so, dass die
Alltagssorgen und die drängenden Aufgaben und Probleme, die manchmal wie
dunkle Felsbrocken über uns hangen, nun plötzlich weggeblasen wären,
nein. Aber sie treten einige Schritte zurück, geben einer anderen, einer
tröstlichen göttlichen Wirklichkeit Raum. Die Lebenswirklichkeit ist
plötzlich in ein neues, in ein warmes, hoffnungsvolles Licht getaucht.
„Sorget euch nicht!“ – denn euer himmlischer Vater sorgt für euch! Ein
wundervolles Angebot!
Liebe
Mitchristinnen und Mitchristen
Das tönt ja schön und gut Man kann aber natürlich sagen, dass es einfach
ist, so zu predigen, so einfach die Behauptung einer göttlichen Fürsorge
in die Welt zu setzen. Vielleicht gar zynisch, oder zumindest billiger
Trost angesichts der schwierigen Realitäten der heutigen Welt, im
privaten wie im öffentlichen Bereich, lokal wie weltweit. Ein billiger
Trost, der nach einer kurzen Aufmunterung schnell wieder entschwindet?
Und dann einer nur umso bittereren und trostloseren Wirklichkeit Platz
macht?
Wir wissen alle nur zu gut, dass neben viel Schönem unser persönliches
Leben immer auch ein bedrohtes Leben ist.
Viele von uns
haben mit einem schwierigen Schicksal zu kämpfen. Sie müssen vielleicht
mit dem Tod eines lieben Angehörigen oder mit schwerer Krankheit fertig
werden.
Und seit dem 11. September dieses Jahres wurde unser Vertrauen in eine
sichere Welt und in ein geborgenes Leben fast im Wochenrhythmus
zusätzlich erschüttert.
Zuerst machte ein von abgrundtiefem Hass erfüllter Terrorismus in den
USA menschliche Körper zu Waffen für die Vernichtung anderer Menschen.
Er verursachte unermessliches Leid und bisher undenkbare Zerstörung. In
Afghanistan nimmt dieses Leiden nun für Millionen unschuldiger Menschen
seinen tragischen Fortgang.
Dann zeigte sich im Parlament von Zug, dass Wut und Rachedurst so
verblendet machen können, dass unschuldige Menschen und demokratische
Institutionen in wildem Hass wahllos zusammen geschossen werden.
Im darauf folgenden Swissair Debakel stürzten für uns Schweizer zentrale
Werte wie Treu und Glauben, Seriosität, Qualität und Zuverlässigkeit in
sich zusammen. Wir sind kein Sonderfall Schweiz mehr.
Und der Unfall im Gotthard-Tunnel zeigte uns schliesslich auf harte
Weise, wie verletzlich die Nutzung der technischen Möglichkeiten uns
auch heute noch macht.
Zentrale Grundwerte unseres Daseins und unserer christlichen Ethik
wurden verletzt und kamen ins Taumeln. Der Boden, auf dem wir stehen,
und auf dem wir gebaut hatten, schien plötzlich zu wackeln.
Wir sehen zudem nun mit Schrecken, wie Menschen auch bei uns hier in der
Schweiz diese Geschehnisse nun zur Propagierung von Hass zwischen
Menschengruppen, zwischen Kulturen und Religionen nutzen. Oder wie sie
als Trittbrettfahrer selbst in unserer Stadt St. Gallen nicht davor
zurückschrecken, mit weissem Pulver Angst und Unsicherheit noch weiter
zu schüren. Wo ist denn da der liebende begleitende Gott?
„Sorget euch
nicht!“ – und wenn es gleich Jesus sagt – ich frage nocheinmal: ist das
nicht entweder naiv oder sogar zynisch? Billiger Trost für Menschen,
deren Angst und Leiden damit nicht ernst genommen wird? Jedenfalls
scheint es kein taugliches Rezept, um in unserer komplizierten heutigen
Zeit ein sicheres und ungefährdetes Leben zu führen.
Man kann sogar noch einen Schritt weiter gehen und fragen: Darf man denn
als verantwortlicher Mensch und Christ so einfach quasi Distanz zu
diesen Realitäten nehmen und versuchen, sich in eine angeblich heile
religiöse Welt zu fliehen und die Erde damit dem Teufel und den
Terroristen zu überlassen?
Die Hymne von Felix Mendelssohn Bartholdy, welche der Kirchenchor vor
der Predigt sang, riecht verdächtig nach Weltflucht. Da hiess es:
„O könnt’ ich
fliegen wie Tauben dahin,
weit hinweg vor dem Feinde zu fliehn!
In die Wüste eilt’ ich dann fort,
fände Ruhe am schattigen Ort.“
„Ruhe am
schattigen Ort“. Das tönt ja schön und verlockend. Aber die Welt? Unsere
tägliche Wirklichkeit? Unsere menschliche Verantwortung?
Meine Antwort auf diese Frage lautet: Wir haben unseren Bibeltext noch
nicht genau genug gelesen.
Das „Sorget euch
nicht!“ fordert nämlich nicht auf zu einem heilen Leben irgendwo auf
einer grünen Insel, propagiert nicht den lebenslangen Rückzug in eine
Wüste. Nein, unser Text ruft uns dieses Wort mitten im Alltagsleben zu.
Jesus wendet sich hier nämlich gegen ein Lebenskonzept, das glaubt,
alles selber in den Händen haben zu können, das Glück selber schaffen zu
können. Er wendet sich gegen den Glauben an ein selber „machbares“ und
sicherbares Leben.
Er wendet sich speziell gegen das Anhäufen von Geld und Gütern im
Glauben, sich so selber das Leben sichern zu können. Funktioniert nicht,
sagt er:
„Wer von euch
kann durch sein Sorgen
zu seiner Lebenslänge eine einzige Elle hinzusetzen?“
Leben ist nicht
einfach machbar, ist letztlich nicht sicherbar. Leben ist immer auch ein
Stück bedrohtes Leben. Wir haben es in den letzten Wochen wieder
deutlich erfahren.
Unser Text weiss also gerade um die Unmöglichkeit, das eigene Leben auf
sicher zu haben, ob wir nun in New York, Afghanistan, Zug, Kloten oder
St. Gallen leben. Auch Sorgen, Raffen, Versichern – und Religion
garantieren keine ungefährdete und ungestörte Existenz.
Jesus hat ein anderes Angebot. Er bietet im Namen Gottes inmitten dieses
gefährdeten Lebens Begleitung und Einladung zur Getrostheit an, eine
Getrostheit, die ich mir nicht selber verschaffen, nicht selber
erarbeiten kann.
Geh deinen Weg, geh ihn getrost, er führt durch helle und schwierige
Zeiten, das ist Teil des Lebens und nicht zu vermeiden. Aber sorge dich
nicht, denn ich bin bei dir, mein Stecken und Stab begleiten dich.
Christliches Leben darf geborgenes und damit getrostes Leben sein mitten
im Alltag einer unsicheren Welt.
Und dann ist da
noch etwas zu sagen, Vers 33:
„Suchet zuerst
Gottes Reich und seine Gerechtigkeit, dann werden euch alle diese Dinge
hinzugefügt werden!“
Getrostes Leben
im Alltag der Welt, Leben, das um Gottes Begleitung weiss, hat ein Ziel:
die Ausbreitung des Reiches Gottes.
Ziel christlichen Lebens ist nicht, für sich allein möglichst durch
Sonne und Licht zu wandern. Das wusste schon Jesus, und das wussten die
frühen Jünger. Sie setzten sich ein für die Menschen und für die Welt.
Ihr Weg führte durch Schmerz und Tod - aber in Geborgenheit bei Gott.
Ihr Leben hatte
ein Ziel. Es war ausgerichtet auf das Reich Gottes, auf jene
Lebensqualität, die Gott für unsere Welt vorgesehen hat, für alle
Menschen. Eine Welt in Frieden, in Versöhnung, in Liebe, in
Menschenwürde, in Gottes sichtbarer Gegenwart. Dafür setzte sich Jesus
ein und setzten sich seine Nachfolger ein, durch alle Jahrhunderte
hindurch. Dafür gaben sie ihr Leben.
Leben nicht nur als Selbstzweck, sondern Leben mit einem Ziel und einer
Vision: das Kommen des Reiches Gottes in dieser Welt.
Was heisst das für uns? Es heisst, dass unser Weg auch weiterhin durch
Licht und Schatten, durch Freuden und Schmerzen führen wird. Es gibt
keine Methode, durch Geld, Güter, psychologische oder religiöse Tricks
sich ein ungefährdetes Leben zu erkaufen.
Stattdessen sind wir unterwegs, den Blick auf Gott und sein anbrechendes
Reich gerichtet. Wir leisten unsere Beiträge an die Ausbreitung einer
lebenswerten und Gott entsprechenden Welt. Wir vertrauen auf Gottes
Begleitung, auf die Begleitung des auferstandenen Christus und des
heiligen Geistes. Wir lassen das goldene Licht des Nicht-Sorgens in
unser Leben herein.
Das ist Leben mit einem Ziel. Leben mitten im sonnigen und schattigen
Alltag der Welt. Getrostes Leben.
Liebe Gemeinde
Lasst mich zum Schluss noch einen Blick auf unser Leben als Kirche
werfen. Heute ist ja Reformationssonntag. Was bedeutet denn dieses
„Sorget euch nicht“ für uns als Kirche, als christliche Gemeinschaft
unterwegs?
Gar nichts
anderes als auch für uns als Einzelpersonen. Wir erleben heute ja auch
als Kirche wieder etwas von der Unsicherheit der Existenz.
Viele der
traditionellen Formen, in denen unsere Kirche lebt, sind im Abbröckeln
begriffen. Sie scheinen irgendwie das Leben der heutigen Menschen nicht
mehr so recht zu treffen. Die Menschen suchen zwar nach einem religiösen
Fundament unterhalb eines als schwankend und erschütterbar erlebten
Bodens - das haben wir gerade in den Katastrophen der letzten Monate
wieder deutlich gespürt,
Aber dauerhaft scheinen sich nur noch Wenige Antworten von den
traditionellen Kirchen zu erhoffen. Und wir als Christen scheinen uns
schwer zu tun, die gute Botschaft so mit dem Leben der heutigen Menschen
zu verbinden, dass sie sie als bedeutsam erleben.
Heisst „Sorget euch nicht“ für uns als Kirchen nun einfach, in grosser
Treue weiter zu machen, wie wenn sich nichts verändert hätte und sich
nichts weiter verändern würde?
Ich sehe in vielem Handeln unserer Kirchgemeinden die Gefahr, durch das
Beharren auf traditionellen Formen, Gebäuden, Finanzen und Strukturen
die Existenz sichern zu wollen. Gleich wie Einzelmenschen, die glauben,
mit Geld und Gütern sich ihr Leben sichern zu können. Das aber
funktioniert nicht.
Wir müssen auch als Kirche unterwegs bleiben, mit viel Phantasie nach
der Ausbreitung des Reiches Gottes in der Welt von heute trachten - und
uns nicht sorgen.
Wir sollen dabei als Kirche einerseits nahe, möglichst noch näher als
heute, bei den Menschen sein, stark von ihnen und ihren heutigen
Situationen und Anliegen her denken.
Andererseits wollen wir unserer Identität und unserem Auftrag treu
bleiben: das Evangelium verkünden und damit eine Kirche nahe bei Gott
und seiner befreienden Botschaft in Jesus Christus sein.
Wie bei den zwei Brennpunkten einer Ellipse gilt es, sich ständig sowohl
an Gottesnähe wie auch an Menschennähe zu orientieren und die beiden in
jeder Situation neu aufeinander zu beziehen.
Im christlichen Glauben ist das eine nicht ohne das andere zu haben, das
eine in keiner Tätigkeit vom anderen zu trennen. Mensch und Gott gehören
zusammen. Jesus Christus hat es uns vorgelebt.
In einer Vorlage an die kommende Wintersynode unserer Kantonalkirche
fassen wir darum unsere gemeinsame Vision
als St. Galler Kirche in Kurzform zusammen mit dem Satz „nahe bei
Gott – nahe bei den Menschen“.
Das bedeutet eine grosse Herausforderung für unsere reformierte
St. Galler Kirche.
Aber wir dürfen sie ruhig und getrost angehen unter der Ermutigung Jesu:
„Sorget euch nicht“.
Liebe Gemeinde
So sind wir denn als Einzelmenschen und als Kirche miteinander getrost
unterwegs, den Blick auf Gott und sein anbrechendes Reich gerichtet. Wir
leisten als Einzelmenschen und als Kirche unsere Beiträge an die
Ausbreitung einer lebenswerten und Gott entsprechenden Welt. Wir
vertrauen auf Gottes Begleitung, auf die Begleitung des auferstandenen
Christus und des heiligen Geistes. Wir lassen das goldene Licht Gottes
in unser Leben herein.
Denn Jesus hat uns zugerufen: „Sorget euch nicht“, ich bin bei euch,
alle Tage, bis ans Ende der Welt.
Amen.