Interview von Matthias
Böhni mit
Pfr. Dr. Dölf Weder, Kirchenratspräsident, "Reformierte Presse",
8/2008, 15. Februar 2008
Kirchenratspräsident
Dölf Weder nimmt Stellung zum eben erschienen Visitationsbericht 2007
RP - Diese Woche ist der
Visitationsbericht 2007 der St. Galler reformierten Kirche
erschienen. Das 180-seitige Werk beschreibt die Situation der St. Galler
Kirche ohne Schönfärberei und gibt eine Reihe von Handlungsvorschlägen,
die die Synode im April diskutieren wird. Der Bericht bestätigt die
"insgesamt gute Verfassung" der St. Galler Kirche. Trotz einiger
"dunkler Wolken am Horizont" gebe es zurzeit keinen Zwang zu
einschneidenden Massnahmen.
Im Interview mit der
"Reformierten Presse" skizziert
Kirchenratspräsident Dölf Weder einige dieser Wolken. Die reformierte
Kirche werde weiter schrumpfen, und dies spürten vor allem die kleinen
Kirchgemeinden. Die bisherigen Bemühungen, kleine Kirchgemeinden zu
überregionaler Zusammenarbeit zu bewegen, seien aber "ernüchternd"
verlaufen. Dabei hätten Zusammenlegungen von kleinen Kirchgemeinden
Vorteile. Bisher seien sie aber finanziell bestraft worden. Sofern die
Synode zustimme, werde sich das schon bald ändern.
"Man kann auch als kleine Kirche,
als Salz der Erde, sehr relevant sein"
Visitationsbericht 2007:
Nüchterne Analyse und deutliche Worte zur Zukunft der St. Galler
reformierten Kirche.
Alle zehn Jahre analysiert sich die St. Galler Kirche
selber und erstellt einen Visitationsbericht. Kirchenratspräsident Dölf
Weder äussert sich im Gespräch mit Matthias Böhni zum neuen Bericht und
zur Zukunft der kleinen Kirchgemeinden.
Gemäss
Visitationsbericht hat die St. Galler Kirche zwar eine starke
Programmkompetenz, ist aber nach Einschätzung der 55 befragten
Kirchgemeinden stark mit sich selbst beschäftigt und unfähig, heutige
Menschen anzusprechen. Sind diese Befunde widersprüchlich?
Nein. Die Kirchgemeinden stellen bei
sich eine starke Selbstkonzentration fest, gleichzeitig eine hohe
Programmkompetenz. Sie tun sich schwer damit, Menschen an der Peripherie
anzusprechen. Man muss sich überlegen, wie man mit neuen Programmen auch
für diese Menschen eine relevante Kirche ist. Das andere ist immer etwas
gefährlich...
Was ist das
andere?
"Reach out and drag in" - rausgehen und
die Leute reinzuziehen versuchen. Ich muss neben die Leute stehen, in die
gleiche Richtung schauen und mit ihnen zusammen Programme entwickeln,
Kirche leben. Die Stärkung der Programmarbeit bezüglich Qualität, Vielfalt
und Innovation hat nach Meinung des Kirchenrats für die nächsten Jahre
höchste Priorität.
Die reformierte Freiheit solle mit Angeboten
erlebbar gemacht werden, die Zaungästen kein schlechtes Gewissen machten.
Man solle kein Gefühl eines "Christlichkeits-Defekts" erzeugen, heisst es.
Können Sie das erläutern?
Die Kirchgemeinden sollen ein klares
theologisches Profil haben. Das kann aber zur Folge haben, dass Menschen,
die punktuell mitmachen meinen, sie hätten ein Christlichkeits-Defizit und
seien nur dann richtig dabei, wenn sie Kirche quasi als Hobby haben. Als
Landeskirche dürfen wir ihnen dieses Gefühl nicht geben. Die St. Galler
Kirche spricht in ihrer Vision "St. Galler
Kirche 2010" von einer Vielzahl von Weggemeinschaften, die sehr kurz
oder auch langfristig sein können. Das entspricht der reformierten
Freiheit.
"Wir müssen uns auf eine längerfristig kleinere,
alternde, finanziell schwächere und gesellschaftlich weniger wahrgenommene
Kirche einstellen", heisst es. Und: "Wenn die reformierte Kirche für die
Mehrheit der Menschen keine Relevanz mehr hat, ist das Ende der
Volkskirche und damit das Ende der finanziellen Privilegien nahe." Zählt
man eins und eins zusammen, ist dieses Ende nicht mehr aufzuhalten.
Wir werden kleiner, das ist ein Faktum. Beim zweiten
Zitat geht es aber um die Wirksamkeit. Man kann auch als kleine Kirche,
als Salz der Erde, sehr relevant sein. wir erreichen auch als Minorität
Wirkung, in der Spital- und Gefängnisseelsorge, im kirchlichen
Sozialdienst an den Berufsschulen oder im Religionsunterricht. Das sind
Dienste, die wir allein oder in Kofinanzierung mit dem Staat erbringen. Er
hat ein elementares Interesse, dass wir das tun - und es ist für ihn
billiger, als wenn er es allein finanzieren müsste.
Die wachsenden und auch dynamisch wirkenden
Kirchgemeinden befinden sich in der Diaspora. Wie erklären Sie sich das?
Unsere Diasporagemeinden zeigen ein gesundes
Selbstbewusstsein und ein klares Profil. Sie mussten sich von jeher gegen
eine katholische Mehrheit behaupten. Gemeinden in urbanen Agglomerationen
haben zudem ein Erfolgserlebnis, weil ihre Mitgliederzahl stark gewachsen
ist.
Entwickelt der Protestantismus mehr Dynamik in der
Minderheit?
Im Kanton St. Gallen ist es jedenfalls kein Handicap.
Die Minderheitsstellung erlaubt uns nicht, behäbig und selbstzufrieden zu
sein...
... we are second, we try harder...
... ja (lacht), genau wie früher die Autovermietung Avis
im Vergleich zu Hertz. Wir sind uns gewohnt, eine Minderheit in der
Bevölkerung zu sein. Das muss kein Nachteil sein.
Sie haben das Forschungsinstitut Gfs Bern
beauftragt, Stärken und Schwächen der Kirche zu analysieren. Gfs
diagnostiziert eine "schwache Kommunikationsbasis durch beschränkte
Zentralisierung und Personalisierung". Wie will man das verbessern?
Der Kirchenrat hat mehrstündig darüber diskutiert. Wir
wollen es nicht verändern. Reformierte Kirche wird vor allem als Kirche am
Ort erlebt, sehr viel Verantwortung ist bei den Kirchgemeinden. Das führt
automatisch zu einer Vielfalt von Profilen und Meinungen. Wenn man auf
kantonaler Ebene Zentralisierung und Personalisierung fördern wollte,
analog zum Katholizismus, würde das zu einer Vereinheitlichung und auch zu
einer gewissen Disziplinierung führen. Das kann nicht der reformierte Weg
sein. Wir wollen weiterhin mit einem vielfältigen - negativ gesehen
vielleicht etwas diffusen - Erscheinungsbild auftreten.
Der Bericht legt nahe, dass kleine Kirchgemeinden
fusionieren sollen, solange sie noch können. Die Erosion könne
"existenzbedrohende Ausmasse" annehmen, eine "schleichende
Selbstzerstörung der Landeskirche".
Die Situation ist jetzt nicht existenzbedrohend,
längerfristig aber schon. In kleinen Gemeinden ist die Programmvielfalt
eingeschränkt, weil ein Dorfpfarrer allein nicht alles machen kann und für
zielgruppenorientierte Programme oft zu wenige Mitglieder da sind. Zudem
sind die Kleinen finanziell verwundbar, eine Änderung im kantonalen
Steuergesetz könnte verheerende Folgen haben. Der Begriff "Fusion" ist
etwas negativ besetzt. Wir streben regionale Kirchgemeinden mit
dezentralem Mitarbeitereinsatz an.
Seit 1999 versuchen Synode und Kirchenrat, diese
regionale Zusammenarbeit zu verbessern. "Das Ergebnis ist ernüchternd",
heisst es.
Man hat in der letzten Visitation vor zehn Jahren
gesehen, dass man grössere Gebilde anstreben muss. Wir versuchten, die
Kirchgemeinden zu belassen, aber regionale Programmzusammenarbeit zu
fördern. Dieses Modell allein ist aber nicht zukunftstauglich, ist zu
kompliziert, braucht zu viele Personen, ist konfliktanfällig. Momentan
haben wir zudem eine Finanzausgleichsordnung, die wegen dem Schutz der
Kleinstgemeinden Zusammenlegungen finanziell bestraft. Mit dem
Visitationsbericht 2007 schlagen wir der Synode vor, dass sie die
Spielregeln so ändert, dass die richtigen Anreize geschaffen werden.
Landkirchgemeinden haben gemäss Bericht oft den
Blues...
Ja, richtig. die Pfarrperson ist dort allein. Es
entsteht eine grössere Dynamik, wenn man im Team arbeiten und sich
gegenseitig ergänzend seine Stärken einsetzen kann.
Aus der Sicht eines Landbewohners tönt das nicht
attraktiv. Er muss in die Nachbargemeinde, wenn er den Pfarrer sehen
will...
Nein, eben nicht. Die Mitarbeitenden werden nicht
abgezogen. Nur die eigene Kirchgemeinde geht in etwas Grösserem auf.
Programmlich wird man dafür interessantere Sachen, eine vielfältigere
Gemeinde erleben können.
Wie kann man dann sparen?
Im Moment müssen wir gar nicht sparen. Wir möchten die
Strukturen vereinfachen und damit die Zukunftsfähigkeit programmlich und
finanziell stärken. Längerfristig wird man so oder so Personal abbauen
müssen.
Die reformierte Bevölkerung ist auf dem Stand der
1940er Jahre, mit dem Personalbestand der 90er Jahre. Warum sinkt er
nicht?
Wir haben dafür keinen finanziellen druck. Und es ist
nicht so einfach, in einem Dorf oder in einem Quartier eine Kirche zu
schliessen oder gar zu verkaufen und den Personalbestand auszudünnen. Das
sind gewachsene Dinge, die will man zu Recht nicht so schnell aufgeben.
War die Produktivität in den 40er Jahren höher?
Die Frage ist, was damals geleistet werden musste. 1940
konnte man die Leute mit klassischer Gemeindearbeit erreichen, heute ist
die Arbeit einer Kirchgemeinde vielfältiger und auf allen Gebieten mit
hohen Ansprüchen konfrontiert. Unsere Pfarrpersonen sind nicht fauler als
früher. Wir sind dankbar, dass wir in unserem Kanton eine relativ hohe
Mitarbeiterdichte haben.
Wo steht die reformierte St. Galler Kirche in 20
Jahren?
Wenn wir die im Bericht skizzierten Projekte im Rahmen
unserer Vision "St. Galler Kirche 2010"
mit Augenmass umsetzen, werden wir auch dann eine relevante Kirche sein,
eine Kirche "nahe bei Gott - nahe bei den Menschen". Die Chancen
sind intakt. Ich bin zuversichtlich - aber auch realistisch.