Vielfalt ist kein Defekt, sondern
ein essentielles Merkmal evangelischer Kirchen
„In der Vielfalt zuhause“ lautete des Thema des
internationalen Bodenseekirchentages 2006. „Wer dem Geist Gottes Raum
zum Wirken gibt, der muss mit Vielfalt rechnen. Monotonie, Eintönigkeit
ist seine Sache nicht, sondern in der Vielstimmigkeit erklingt dieser
Geist“, formulierte der Festprediger.
In der Tat kommt bereits in der Bibel eine Vielfalt von
Glaubenszeugnissen zu Wort, ineinander gearbeitet, nebeneinander stehend,
sich gelegentlich gar widersprechend. So vielfältig die Menschen sind, so
vielfältig antworten sie auf Gottes Ruf, so vielfältig leben sie ihren
Glauben.
Die Reformation setzte als Kriterium „sola scriptura“
(„die Schrift allein“). Neue Bibelübersetzungen ermöglichten das eigene
Urteil – Vorboten der Mündigkeit des Menschen, die zum zentralen Thema der
Aufklärung und schliesslich der Demokratisierung wurde.
Vielfalt ist die natürliche Folge des biblischen und des
evangelischen Glaubensverständnisses.
Einheitlichkeit wird
gefordert, ist aber kein evangelischer Weg
Die neue Selbstverantwortung führte zu
Konfessionalisierung und Aufsplitterung der protestantischen
Kirchenfamilie, in der Schweiz zur Ausbildung eines farbigen Teppichs von
Landes- und Freikirchen mit ihrer gelegentlich kontroversen Vielfalt an
theologischen Prägungen und Ausgestaltungen des kirchlichen Lebens. Der
Glaubwürdigkeit unseres Zeugnisses ist das nicht förderlich. Zudem
kompliziert es das ökumenische Gespräch.
Unsere mediale Welt tut sich schwer mit differenzierten
Positionen. Gefordert sind kurze, kantige Statements, leicht einzuordnen
in polarisierenden Denkschemen. Einheitlich und erkennbar sollen wir sein.
Das ist für Landeskirchen und ihre Vielfarbigkeit ein echtes Problem. Es
ist zudem dem Menschsein mit seinen Schattierungen und
Widersprüchlichkeiten grundsätzlich nicht angemessen, geschweige denn der
Vielfarbigkeit persönlich geprägter Glaubensvollzüge.
Der Ruf nach Vereinheitlichung und Einheitlichkeit
findet auch in unseren Kirchen seine Vertreter. Vielfalt und
Einheitlichkeit sind aber Gegensätze. Also Abstriche bei der
biblisch-evangelischen Vielfalt und statt dessen „evangelische
Korrektheit“, Definition von Grenzen und ausgrenzendes „Ihr seid
draussen“?
Es gibt einen anderen Weg: Einheit in der Vielfalt. Denn
Vielfalt und Einheit sind keine Gegensätze. Jesus hat für diesen Weg
gebetet, Paulus ihn vertreten.
Einheit der Glaubenden – „…auf
dass sie alle eins seien…“
Die Einheit der Glaubenden war Jesus und den frühen
Gemeinden ein grosses Anliegen. Erst recht, als sie sich über den ganzen
Mittelmeerraum mit dessen kultureller und religiöser Vielfalt
ausbreiteten. Paulus spricht beschwörend vom einen Leib Christi. Die
Vielfalt und Unterschiedlichkeit von dessen Gliedern kritisiert er nicht.
Er fordert nicht Einheitlichkeit – aber Einheit und Einsatz der
vielfältigen Charismen zur Auferbauung der Gemeinde.
„Einheit in Vielfalt“ und Jesu Gebet „…dass sie alle
eins seien …“ waren in der Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts die
grosse, die protestantische Familie einander weltweit näher bringende
Vision. Es ist der Weg, den auch wir Schweizer Kirchen in den nächsten
Jahren viel betonter verfolgen müssen.
Einheit „von oben“ oder „von unten“?
Einheitlichkeit lässt sich von oben verordnen oder durch
demokratische Mehrheitsbeschlüsse anstreben. Aber Einheit gibt es nicht
ohne die Herzen der Menschen. Wenn die Menschen keine Einheit spüren, in
ihnen kein Gefühl von Verbundenheit besteht oder entsteht, kann man „oben“
noch lange Konsensformeln, Bekenntnisse und liturgische Texte
verabschieden. Sie mögen sogar theologisch richtig sein. Aber sie werden
wenig neue Einheit bewirken. Einheit entsteht, wenn auch bei den Menschen
an der Basis etwas geschieht. Neues muss auch „unten“ in Bewegung kommen,
erlebbar werden, zu Veränderung und einer stärkeren gemeinsamen
Ausrichtung führen.
Das heisst nicht, dass man „oben“ zur Untätigkeit
verurteilt ist. Die Förderung von Einheit in der Vielfalt benötigt eine
Interaktion der beiden Bewegungsrichtungen.
Die neue Leadership-Rolle des
SEK
Wir müssen dem SEK einen neuen Auftrag erteilen. Er muss
im Thema evangelische Identität und Einheit künftig eine
Leadership-Funktion zur Förderung der gemeinsamen Ausrichtung wahrnehmen.
Der SEK benötigt dafür nicht viele neue
Entscheidungskompetenzen. Es ist nicht Ziel, dass eine neue „Schweizer
Synode“ „oben“ irgendwelche Beschlüsse fasst und sie „nach unten“
durchzusetzen versucht.
Auftrag des SEK ist das Initiieren, Leiten und Nähren
schweizweiter Ausrichtungsprozesse. Dynamisch, interaktiv und partizipativ
müssen sie sein. Dazu gehören durchaus auch klare programmatische
Botschaften und Anstösse. Und basistaugliches Material, damit keine
Luftschlösser entstehen. Es müssen die konkreten Realitäten und
Zukunftsperspektiven unserer Kantonalkirchen, Kirchgemeinden und ihrer
Menschen angesprochen werden. Dazu braucht es ihr Engagement und Mittun.
Zentral ist die Glaubensfrage
Viel beklagt wird unser schwaches „Profil“. Mir ist das
eine zu oberflächliche Diagnose. Unser Problem liegt tiefer: wir haben
eine Identitätsdiffusion. Unsere Vielfalt ist nicht nur Ausdruck einer
gesunden Glaubensvielfalt, sondern oft auch einer gewissen
Richtungslosigkeit, einem Mangel an einer klaren Identität und
Ausrichtung.
Wer sind wir? Wofür stehen wir? Was ist unser Auftrag?
Was wollen wir erreichen? Wir müssen neu miteinander darüber nachdenken.
Wir müssen neu wagen, deutlich, klar und verständlich vom Glauben zu
reden. Dazu benötigen wir einander, benötigen wir einen offenen, lebhaften
Diskurs, benötigen wir eine gemeinsame Ausrichtung, benötigen wir einen
gestärkten SEK.
Es geht um zwei, eng miteinander verbundene Elemente.
Mit der St. Galler Vision gesagt: Es geht um Kirche „nahe bei Gott – nahe
bei den Menschen“ und darum, was das heute konkret bedeutet – in Einheit
und Vielfalt.