Publikationsbeitrag von Pfr. Dr. Dölf Weder,
Kirchenratspräsident, September 2013
Gesellschaft im Umbruch –
Kirchen im Umbruch
Unsere Gesellschaft ist im Umbruch, darum sind auch die
Kirchen im Umbruch. Diese Tatsache ist nicht neu, aber sie wird durch neue
Studien immer deutlicher belegt und in den Konsequenzen genauer
beschrieben. Zu beobachten sind namentlich eine zunehmende Distanzierung
der Menschen von kirchlicher Religiosität und das Auseinanderdriften von
institutioneller und individualisierter, nicht-konfessioneller
Religiosität. In urbanen Gebieten ist bereits ein eigentlicher
Traditionsabbruch feststellbar. Das schwächt die Landeskirchen.
Nun kann man diese Entwicklung entweder in der Haltung
von Untergangsverwaltern beklagen und zeitlich zu verzögern versuchen,
oder man kann sich als aktive Übergangsgestalter verstehen und fragen, was
christliche Kirche zu leben in der neuen und sich weiterhin rasch
verändernden Situation für und mit den Menschen von heute bedeuten kann.
Substantielle Veränderungen sind dabei nicht zu umgehen. Wenn wir
weiterhin tun, was wir heute tun, werden wir – bestenfalls – die Resultate
erzielen, die wir heute erzielen. Wenn ein Segelboot bei drehendem Wind
das gleiche Ziel wie bisher ansteuern will, muss es die Segelstellung
ändern, sonst bleibt es stehen oder kentert sogar. Entscheidend in solchen
Entwicklungsprozessen ist, sich nicht in Theorien und Leitbildern zu
verlieren, sondern den Fokus auf eine klare Zielvorstellung und eine
langfristig angelegte, kontinuierliche Umsetzung zu legen. Das erfordert
eine konsequente Ziel- und Resultatorientierung – auf der Basis einer
klaren Identität.
Essentielle Fragen im Rahmen eines solchen Prozesses
sind deshalb:
Wer sind wir, was ist unsere Identität?
Was ist unser Auftrag?
Was sind unsere Ziele?
Wie gelangen wir dorthin, was ist unser Weg?
Von der Analyse zur gemeinsamen
Ausrichtung
Nach einer Situationsanalyse leitete der Kirchenrat der
Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons St. Gallen im Jahr 2000 einen
solchen klärenden Prozess ein. Zusammen mit allen Kirchenvorsteherschaften
und Mitarbeitenden im Kanton führte er die interaktiven Prozesse „St.
Galler Kirche 2010“ und später „St. Galler
Kirche 2015“ durch. Die erarbeitete gemeinsame Ausrichtung und die
Zielsetzungen wurden und werden mit langfristiger Perspektive und grosser
Beharrlichkeit schrittweise umgesetzt. Institutionalisierte Evaluationen
des Zielerreichungsgrades ermöglichen auf allen Ebenen notwendig werdende
Korrekturen und Weiterentwicklungen der Ziele und der zu deren Erreichung
eingesetzten Massnahmen.
Als entscheidend erwies sich die Förderung einer
gemeinsamen Ausrichtung. Es ist eine breite und viele Glaubensfarben
ermöglichende Zielrichtung. Aber sie macht eine klare Aussage, wer wir
sein und in welche Richtung wir uns entwickeln wollen. Zusammengefasst ist
sie in der Vision einer Kirche „nahe bei Gott – nahe bei den Menschen“.
Wir bekennen uns damit zum Anliegen, als Kirche
einerseits den Menschen in ihrer heutigen Lebenswirklichkeit nahe zu sein,
stark von ihnen und ihren Situationen und Anliegen her zu denken.
Andererseits wollen wir unserer Identität und unserem Auftrag treu sein:
das Evangelium verkünden und damit Kirche nahe bei Gott und seiner
befreienden Botschaft in Jesus Christus leben. Wie bei den zwei
Brennpunkten einer Ellipse gilt es, sich ständig sowohl an Gottesnähe wie
auch an Menschennähe zu orientieren. Im christlichen Glauben ist das eine
nicht ohne das andere zu haben, das eine in keiner Tätigkeit vom anderen
zu trennen. Jesus Christus hat uns das vorgelebt.
Ende 2001 verabschiedete die Synode nach einem
zweijährigen intensiven Prozess das Strategiepapier „St. Galler
Kirche 2010“. Nach einer ausführlichen Evaluation im Rahmen einer
breit angelegten Visitation aller
Kirchgemeinden wurde es 2008 aufdatiert zur heute gültigen Version „St.
Galler Kirche 2015“. Sie enthält kurze, klare Aussagen zu Fundament
und Auftrag, zur Vision einer Kirche „nahe bei Gott – nahe bei den
Menschen“, zu den Wertefeldern „gelebter Glaube“, „lebendige
Weggemeinschaften“ und „bereicherndes Miteinander“ sowie zu den drei
Schwerpunkten bis 2015: „Auftrag und Vision vertiefen“, „Programmarbeit
stärken – Qualität, Vielfalt und Innovation“ und „Lebendige Kirchgemeinden
fördern“.
Die programmatische Kraft einer
klaren Vision
Es zeigt sich, dass die Vision einer Kirche „nahe bei
Gott – nahe bei den Menschen“ und die konsequente Zielorientierung
starke programmatische und dynamisierende Kraft entwickelt. Die
Kirchgemeinden untereinander und die kantonalkirchlichen Programmstellen
sind sich deutlich näher gerückt und haben an Dynamik gewonnen. Zwischen
ihnen ist eine rege Interaktion entstanden. Depressive Gefühle wichen
einer zuversichtlicheren Haltung. Man wagt, sich mutig den oft schwierigen
Realitäten zu stellen. Eine ganze Reihe von Zielen konnte inzwischen
erreicht, neue Horizonte angepeilt werden. Das vermittelt wichtige
Erfolgserlebnisse. Die St. Galler Kirche wirkt in aller menschlichen
Schwachheit. Aber sie lebt, und sie ist als kirchliche Gemeinschaft trotz
einem schwierigen gesellschaftlichen Umfeld zuversichtlich und mit den
Menschen auf relevante Weise unterwegs – wanderndes Gottesvolk.
Im Folgenden wird am Beispiel eines einzelnen von vielen
Themen gezeigt, wie sich mit einer solchen langfristig angelegten,
zielorientierten Strategie Kirchgemeinden nachhaltig verändern und neues,
die Menschen berührendes christliches Leben entsteht. Es geht um das
Beispiel populäre Kirchenmusik, in welcher die St. Galler Kirche heute
eine in der Schweiz führende Rolle spielt.
Als Beispiel: Populäre
Kirchenmusik
Die Situationsanalyse von 2000 zeigte in unserem Kanton
eine gut entwickelte traditionelle Kirchenmusik, samt einer eigenen
Kirchenmusikschule mit staatlich anerkannten Abschlüssen in Orgel und
klassischer Chorleitung. Unter dem Aspekt von „nahe bei den Menschen“
musste aber gleichzeitig festgestellt werden, dass diese Musik nur noch
die Ausdrucksform einer kleinen Minorität heutiger Menschen ist. Der
Verkauf von CDs mit Orgelmusik liegt weit unter einem Prozent aller
verkauften CDs. Können wir es uns als Kirche leisten, einfach festzulegen,
dass zu einem „richtigen“ reformierten Gottesdienst traditionelle
Orgelmusik gehört, und deshalb die grosse Breite anderer Musikstile
auszuschliessen? Oder diese allenfalls einmal pro Jahr als besondere
Attraktion und zur Demonstration der eigenen „Modernität“ in einem
aufgepeppten Konfirmationsgottesdienst einzusetzen? Wir meinen Nein.
Im Strategiepapier „St. Galler Kirche 2010“
verabschiedete die Synode deshalb 2001 das Ziel „eine Vielfalt von
klassischen und populären Arten von Musik sprechen inner- und ausserhalb
der Kirchenräume auch neue Gruppen von Menschen an.“ Klar war von
Anbeginn, dass die kirchliche Popularmusik den gleich hohen
Qualitätsansprüchen genügen muss wie die weiterhin zu pflegende und
auszubildende traditionelle Kirchenmusik.
Bereitstellung von
Ressourcen und Bildungsangeboten
Der Kirchenrat erklärte der Synode 2002 im Rahmen eines
umfassenden Massnahmenbündels zu den personellen Konsequenzen ihrer
Entscheide von 2001, dass auch zur Umsetzung dieses Zieles neue personelle
Kapazitäten geschaffen werden mussten. Die Zustimmung des
Kirchenparlaments hierzu führte 2003 zur Schaffung einer Arbeitsstelle
Populäre Musik mit einem 50% Pensum und zur Anstellung eines ausgebildeten
Jazzmusikers mit grosser Erfahrung in Bandarbeit.
Bei der Animation der Gemeinden für eine solche
Stilerweiterung in ihrer Kirchenmusik – unter anderem durch die Schaffung
einer eigenen kantonalkirchlichen Band von hoher Qualität – wurde rasch
klar, dass für eine flächendeckende Umsetzung dieser Vision schlicht nicht
genügend ausgebildete Musikerinnen und Musiker zur Verfügung standen,
welche sowohl über eine entsprechende popularmusikalische Ausbildung als
auch über die notwendige kirchenmusikalische Kompetenz verfügten. Also
mussten wir die Ausbildung an unserer Kirchenmusikschule entsprechend
erweitern. Das wiederum erforderte eine entsprechende neue Besetzung von
deren Direktion sowie – unter dem gemeinsamen Dach der Musikakademie St.
Gallen – eine enge Zusammenarbeit mit der Jazzschule St. Gallen.
2005 entstand so die erste staatlich anerkannte
Ausbildung der Schweiz in populärer Kirchenmusik. Inzwischen haben sie –
berufsbegleitend und je nach Niveau zwei- oder dreijährig – bereits gegen
30 Popularmusikerinnen und -musiker erfolgreich abgeschlossen. Hinzu trat
die Schaffung eines kirchenmusikalischen Zusatzmoduls, welches es
Absolventinnen und Absolventen von Jazzschulen und anderen
Ausbildungsgängen ermöglicht, die Anerkennung als kirchlicher
Popularmusiker zu erwerben. Ohne eine solche Qualifikation ist die
Wählbarkeit in einer St. Galler Kirchgemeinde nicht gegeben.
Für bereits in den Gemeinden aktive Amateur- und
Profi-Musiker, Bands und populäre Chorleitende wurde ein reiches Angebot
an Workshops und Weiterbildungen geschaffen.
Ein nächstes Problem ergab sich mit den ersten
Popularabschlüssen. Welche Gemeinde konnte und wollte es sich denn schon
leisten, neben Organisten und klassischen Chorleitern zusätzlich
Popularmusikerinnen anzustellen? Wir verfügten nun zwar über professionell
ausgebildete Musiker, aber konnten ihnen keine Stellen anbieten.
Aus diesem Grunde genehmigte der Kirchenrat in bis heute
fast der Hälfte unserer Kirchgemeinden so genannte Innovationsprojekte.
Die Kantonalkirche übernimmt dabei für bis zu drei Jahren die
Personalkosten in der Grössenordnung von 20 bis 50 Stellenprozenten. In
den Gemeinden fallen nur noch die operativen Kosten an. Dieses Modell
erwies sich als sehr erfolgreich. Nach Projektablauf wurden die
Anstellungen in praktischen allen Gemeinden auf eigene Kosten
weitergeführt, teilweise kompensiert durch Umlagerungen zulasten der
traditionellen Kirchenmusik. Das wiederum hatte zur Folge, dass eine ganze
Reihe von klassischen Musikern ihre Liebe auch zu moderneren Musikstilen
entdeckten und sich, wo nötig, entsprechend zusatzqualifizierten – und
umgekehrt: Popularmusiker, die ihre musikalische Qualifikation in
Richtung klassischer Musikstile erweiterten. Insgesamt verfügt unsere
Kirche heute über eine stilistisch viel breiter und vielseitiger
einsetzbare Musikerschaft, was sich namentlich in den Gottesdiensten und
in der Chor- und Bandarbeit sehr positiv auswirkt.
Wichtig erwies sich bei diesen Projekten die nahe
Begleitung der eingesetzten Musiker durch die Arbeitsstelle Populäre Musik
der Kantonalkirche. Es entstand eine verschworene Gruppe engagierter
Musikerinnen und Musiker, die sich gegenseitig unterstützen und von ihren
Erfahrungen profitieren.
Die Band- und populäre Chorarbeit zeigt sich zunehmend
auch als attraktives Vehikel, um mit Jugendlichen in der Kirche zu
musizieren und sie aktiv an der Gottesdienstgestaltung zu beteiligen. Sie
wird heute in verschiedenen Gemeinden mit Erfolg in der Konfirmandenarbeit
und in den kirchlichen Erlebnisprogrammen auf der Oberstufe eingesetzt.
In der Kirche einsetzbare Popularmusik reicht von
traditioneller Volksmusik im Toggenburg über moderne Anbetungsmusik bis
hin zu Rock und Hip-Hop – eine grosse Vielfalt. Die verfügbare Musik, und
namentlich auch die Texte, weisen jedoch beachtliche Qualitätsunterschiede
auf. 2008 diskutierten wir deshalb die Notwendigkeit eines gewissen
„Kernrepertoires mit Qualitätskontrolle“. Daraus entstanden jährliche
kantonale Singtage, für die eine Spurgruppe Repertoire jedes Jahr zwölf
populäre Kirchenlieder von guter Qualität auswählt und in die
Kirchgemeinden trägt. Die Sammlung der Singtaglieder 2009 bis 2012 wurde
2012 unter dem Titel „Gott sei Dank – Die St. Galler Singtaglieder
2009-2012“ beim TVZ in Buchform publiziert und in Gottesdienststärke
gratis an alle St. Galler Kirchgemeinden abgegeben. Um das Repertoire des
neuen Liederbuches vor Ort in den Gemeinden noch besser zu verankern,
lösen ab 2013 sechs regionale Singtage den kantonalen ab.
Der Leiter der St. Galler Arbeitsstelle für Popularmusik
stellt seine Erfahrungen häufig auch anderen Kantonalkirchen und auf
deutschschweizerischer Ebene zur Verfügung, beispielsweise als Präsident
der neu geschaffenen Fachkommission Popularmusik der Liturgie- und
Gesangbuchkonferenz der evangelisch-reformierten Kirchen der
deutschsprachigen Schweiz. Die Bereicherung durch kirchliche Popularmusik
– in Ergänzung zu und nicht als Ersatz von klassischer Kirchenmusik – wird
zudem zunehmend auch in der Ausbildung von kirchlichen Mitarbeitenden
entdeckt.
2012 führte die St. Galler Kirche ein neues, für alle
Kirchgemeinden verbindliches Kirchenmusikreglement ein. Dessen Artikel 4
„Vielfalt musikalischer Stilrichtungen und Zielgruppen“ lautet:
„Die vielfältigen Arbeitsfelder der Kirche erfordern die
Pflege einer Vielfalt von musikalischen Stilrichtungen. Sie sollen mit
gleichen Qualitätsansprüchen gepflegt und entschädigt werden. Ihr Einsatz
ist auf den Charakter und die Zielgruppen der einzelnen Veranstaltungen
abzustimmen. Die Kirchgemeinden sind in ihren Personalentscheiden dafür
besorgt, dass diese Vielfalt musikalischer Stilrichtungen und kirchlicher
Zielgruppen angemessen und fachlich kompetent abgedeckt ist. Das kann
erfolgen durch den Dienst mehrerer Personen mit unterschiedlichem
musikalischem Profil oder durch den Einsatz von Personen mit einer breiten
stilistischen Kompetenz.“
Inzwischen wird kirchliche Popularmusik in drei Vierteln
unserer Kirchgemeinden regelmässig eingesetzt.
Mit all diesen Entwicklungen wurde seit dem Jahr 2001
ein weiter Weg zurück gelegt. Das Beispiel der Popularmusik zeigt, wie die
Vision einer Kirche “nahe bei Gott – nahe bei den Menschen“ Kraft
entfaltet und konkrete Veränderungen bewirkt. Dasselbe könnte man für eine
ganze Reihe anderer Arbeitsgebiete zeigen. Immer sind eine klare Vision
und Zielrichtung der Startpunkt der Entwicklung, und anschliessend ist
eine jahrelange, schrittweise und interaktive Umsetzung notwendig.
Das Beispiel der Popularmusik zeigt, dass die
Entwicklung neuer oder der Ausbau bestehender Programmfelder zumindest in
der Aufbauphase zusätzliche Ressourcen erfordert, personelle wie
finanzielle. In neue Ideen muss man investieren, sie sind nicht gratis zu
haben. Das ist in einer Zeit schwindender Finanzen und chronisch
überlasteter Mitarbeitender gar nicht so leicht. Es geht nicht ohne
Prioritätensetzung. Man muss klar sagen, was zugunsten der Investition in
Neues künftig nicht mehr getan wird. Man kann auch nicht viele Prozesse
gleichzeitig in Angriff nehmen. Damit würde man sich überfordern. Wir
empfehlen unseren Gemeinden und Regionen, sich pro Jahr auf ein oder zwei
Themen zu konzentrieren, diese aber mit vollem Engagement anzugehen.
Damit sind wir wieder bei den vier am Anfang dieses
Beitrages erwähnten Grundfragestellungen. Sie müssen gemeinsam und breit
diskutiert werden. Anschliessend fällt man klare Entscheide – inklusive
was nicht mehr getan wird – und setzt sie schrittweise, aber konsequent
um. Das ist zielorientiertes kirchliches Handeln, basierend auf einem
klaren Verständnis der eigenen Identität und des uns als Kirche gegebenen
Auftrags.
Lebendiges christliches Leben ist
auch heute möglich
Die Zeiten ändern sich, unser Wesen und unser Auftrag
als Kirche ändern sich nicht – sehr wohl aber die Formen, in denen sie
sich ereignet. Lebendiges christliches Leben ist auch heute möglich – wenn
wir Kirche „nahe bei Gott – nahe bei den Menschen“ bleiben.