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cand. theol. Dölf Weder
Theoretisch-theologische Prüfung, Klausur in Ethik,
1978
Der neue Ruf nach der
Todesstrafe für Gewaltverbrecher
Geschichtlicher
Auslöser
Vor wenigen Jahren noch galt die Abschaffung der
Todesstrafe als eine der wichtigsten Errungenschaften des Rechtsstaates.
Mit einem gewissen Grausen nur erzählte man sich in der Schweiz vom
Elektrischen Stuhl in den USA, von Verbrennungen in der Schweiz, von der
Funktion der Guillotine in Frankreich. Die Todesstrafe war fast mit
einem Hauch von Barbarentum umgeben.
Die Situation hat sich aber schlagartig gewandelt.
Meines Wissens erstmals aktuell wurde die Todesstrafe in der Schweiz
durch eine Unterschriftensammlung der FDP St. Gallen im Zusammenhang mit
arabischem Luftterror. Mit dem Terrorismus blieb auch die Frage der
Todesstrafe, ja sie verstärkte sich und führte sogar zu
parlamentarischen Vorstössen (Oehen).
Der neue Ruf nach der Todesstrafe steht also im
Zusammenhang mit der Erfahrung einer gewissen Ohnmacht des Rechtsstaates
gegenüber den Methoden des modernen Terrorismus, der bewusst Leben
gegen Leben ausspielt (Geiselnahme).
Begründungen
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Zuerst
einmal sind wohl Emotionen zu nennen. Wie TV-Interviews in
Deutschland zur Zeit der Schleyer-Entführung zeigten, brechen
dabei bei Vielen ganz elementare Gegen-Aggressionen und
Rachegefühle durch. Ergäbe sich die Gelegenheit, würde wohl
heute noch Lynchjustiz geübt (vgl. dazu den Film "Easy
Riders"): Gewaltverbrecher gehören an die Wand gestellt.
Dahinter steht (im besten Falle) das alte "Auge um Auge, Zahn
um Zahn", das ius talionis. |
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Man
wird den Eindruck nicht ganz los, dass Politiker, die eine
Popularitätsaufbesserung nötig haben, die Todesstrafe und die
damit verbundenen Emotionen der Massen nur als Mittel zum Zweck
benötigen. |
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Die
Todesstrafe wird verstanden als völlige Vernichtung,
Auslöschung, Endlösung. Sie erhält so den Charakter von etwas
Absolutem (siehe theologische Wertung unten). |
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Die
Todesstrafe ist irreversibel. Dies hat unter anderem zur Folge,
dass kein Risiko von Befreiung, Erpressung oder gar neuer Macht
mehr besteht. Dies bedeutet auch eine grosse Kosteneinsparung,
eventuell die Rettung von Menschenleben (Geiselnahme). |
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Von der Todesstrafe verspricht man sich eine abschreckende Wirkung. |
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Der
Tod wird pseudo-theologisch auch als stärkste Form einer
Sühneleistung verstanden. |
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Die
Henker-Frage wurde in TV-Interviews damit beantwortet, dass es
genügend rohe Menschen gebe, die solches von Amtes wegen tun
würden. Amt bedeutet damit zugleich Entbindung von persönlicher
Verantwortung. |
Folgende Argumente werden unter anderem vorgebracht:
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Das
Problem der Irreversibilität der Todesstrafe
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Es
besteht das Problem des Justizirrtums. |
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Missbrauch
richterlicher Gewalt ist möglich. |
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Die
Anwendung der Todesstrafe kann sich auch auf andere Delikte
ausweiten, womit sich die Probleme verschärfen und
Zustände heraufbeschworen werden, die heute
glücklicherweise überwunden sind (vgl. die Angriffe auf
die Todesstrafe als Thema vieler engagierter Filme). |
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Die
abschreckende Wirkung der Todesstrafe ist nicht gegeben. |
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Die
Todesstrafe als "schneller Tod" wird von vielen sogar
einer langen Haft vorgezogen (vgl. den Fall, der letztes Jahr in
den USA die Gemüter bewegte: "Recht auf Todesstrafe"?). |
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Der
Rechtsstaat, der Gewalt in dieser Form mit Gegengewalt
beantwortet, tut genau das, was seine Provozierer wollen. Ihnen
geht es ja darum, die angebliche "strukturelle Gewalt"
des Bestehenden durch Gewalt so zu provozieren, dass sie zur
offenen Gewalt wird und sich damit der Rechtsstaat als Gewaltstaat
entpuppt (Marcuse). |
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Der
mit dem Tode Bestrafte hat keine Möglichkeit, seine Schuld der
Gesellschaft gegenüber zu sühnen. Der Tod ist nicht als Sühne
zu verstehen (Sühne im Sinne teilweiser Wiedergutmachung). |
Diese Argumente sind dem Anschein nach alle nicht sehr
"theologisch". Wie Arthur Rich durch die Einführung des
"Sachgerechten" als Kriterium des Humanen aus Glauben,
Hoffnung, Lieber aber zeigte, sind auch sie von theologischer Relevanz
und müssen mitberücksichtigt werden.
Die
Extremisierung von "Schuld"
Arthur Rich hat in seinen Publikationen immer wieder
auf den Unterschied zwischen Extremismus und Radikalität hingewiesen.
Während die christliche Radikalität am Grund, an der Wurzel (radix),
interessiert ist und deshalb immer auf das Ganze zielt, alle Werte somit
in Relation zum Ganzen und zu den Gegenwerten setzt (Kriterium der
Relationalität), setzt der Extremismus einen Wert absolut. Sei
dieser Wert noch so wichtig (Freiheit zum Beispiel), er wird absolut
gesetzt zum Unwert (vgl. Luthers "Freiheit eines
Christenmenschen").
Genau eine solche Extremisierung geschieht nun aber,
wenn der Mensch, der ein Gewaltverbrechen begangen hat, nur noch unter
dem Aspekt "Gewaltverbrecher" gesehen wird. Er wird reduziert
auf sein Gewaltverbrechertum und seine Schuld: seine Schuld wird
extremisiert. Christliche Radikalität wird demgegenüber die Schuld als
einen Aspekt an diesem Menschen begreifen, auf den allein er niemals
reduziert werden darf. Im folgenden soll deshalb die Schuld in Relation
zu dem gesetzt werden, unter dem dieser schuldig gewordene Mensch auch
gesehen werden muss, im Licht des Evangeliums gesehen werden muss.
Der
Gewaltverbrecher im Licht des Evangeliums
Der Gewaltverbrecher ist und bleibt Abbild Gottes. Die
imago dei geht dem Menschen auch nach dem Fall nicht verloren und wird
durch menschliche Schuld nicht verspielt (Gen. 1, 26f; 5, 1.3;
9, 6; 1. Kor. 11, 7).
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Es
bleibt das "Recht Gottes auf den Menschen" (Moltmann)
als seine Kreatur, die er ins Leben gerufen hat. In diesem
Zusammenhang könnte auch - mit aller Vorsicht - ein Recht auf
Leben begründet werden. (Wie die Diskussion um den
Schwangerschaftsabbruch zeigt, darf auch der Wert
"Leben" nicht extremistisch absolut gesetzt werden.) |
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Durch
die Inkarnation hat sich Gott in Jesus Christus solidarisch auch
mit dem Gewaltverbrecher gemacht. Jesus sucht eben gerade die
Zöllner und Sünder, die des Arztes bedürfen. |
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Jesus
hat sich zum Bruder der Verbrecher und uns zu dessen Mitbrüdern
erklärt - diese erstaunliche Feststellung resultiert aus Mth.
25, 36.40, wenn man sie der die Aussage entstellenden
Gloriole entkleidet. |
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Insofern
ein Verbrecher getauft ist und auf seine Taufe hin angesprochen
werden kann (was nun nicht in allen Fällen unbedingt der Fall zu
sein braucht), muss auch der Verbrecher als Glied am Leibe Christi
verstanden werden (1. Kor. 12, 13). Die Glaubenden
sind damit zur Sorge für diesen Menschen aufgerufen
(1. Kor. 12, 25) und - nocheinmal - sie sind trotz
allem solidarisch mit ihm. Sie haben allerdings gleichzeitig die
Aufgabe, diesen Bruder in Christus wieder zurecht zu bringen. |
Alle diese Aussagen sind ja nun schon höchst
erstaunlich und wohl auch Ärgernis erregend. Sie verunmöglichen es
radikal, den Gewaltverbrecher als Nicht-mehr-Menschen aus der
menschlichen Gesellschaft auszustossen und ganz einfach zu eliminieren.
Aber gerade diese Aussagen vermochten auch, eine offensive Dynamik in
das Handeln von Christen zu bringen, die plötzlich ihrer Verantwortung
auch gegenüber diesen "Geringsten meiner Brüder"
(Mth. 25, 40) gewahr wurden (zum Beispiel Mathilda Wrede).
Noch ein anderer Gesichtspunkt muss jedoch beleuchtet
werden:
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Im
Lichte des Zornes Gottes rücken alle Menschen zusammen zu einer
Einheit der Sünder: "Es ist keiner gerecht, auch nicht
einer" (Röm. 3, 10). Sie leben alle versklavt
unter die Sündenmacht (Röm. 7, 14ff). Damit ist
keineswegs eine Verharmlosung des Gewaltverbrechers postuliert.
Nein, es ist und bleibt ein unerhörtes Verbrechen gegen ius
divinum und ius humanum. Aber worauf es ankommt: diese spezielle
Schuld ist relative Schuld, keine absolute. Unter dem Aspekt des
Absoluten sitzen wir alle im gleichen Boot. |
Ergebnis: Im Lichte des Evangeliums zeigt sich, dass
auch der Gewaltverbrecher nicht als Nicht-Mensch aus der Gesellschaft
ausgestossen werden darf. Er darf weiter nicht mit einer Strafe bestraft
werden, die den Charakter des Endgültigen und Absoluten hat (siehe
oben). Auch der Gewaltverbrecher bleibt in der Gemeinschaft und
Solidarität der Schuldigen und auch ihm gilt Gottes unbedingtes
Gnadenangebot in Jesus Christus - und dabei geht es bekanntlich nicht
nur um ein jenseitiges Seelenheil.
Das Recht
als Funktionalität der Liebe
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Arthur
Rich hat in seiner Schrift "Radikalität und
Extremismus" herausgearbeitet, dass Gottes Macht nicht
monokratische Allmacht ist, sondern Macht im Modus der Liebe; sie
ist dialoghafte Macht (Trinität), sich selbst begrenzende Macht.
Macht im Modus der Liebe verzichtet auf ihre Durchsetzung durch
Macht. |
Rich zeigt nun, dass ein Staat nicht ohne Macht (und
Gewalt) auskommt: Macht ohne Recht ist tyrannisch, Recht ohne Macht
ist ohnmächtig (Pascal).
Die moderne Idee des Rechtsstaates ist nun aber im
Gegensatz zur monokratischen Macht im "Gottesgnaden-Staat",
im absolutistischen (Thomas Hobbes) oder demokratischen Staat
(Rousseau) sich selbst begrenzende Macht. Sie begrenzt sich selbst
durch Recht, welches den Bürgern maximale Freiheit zu garantieren
sucht, und sie teilt in sich die Macht (Gewaltenteilung), wiewohl
diese dreigeteilte Macht (analog zur Trinität, cf. Marti, Imboden,
Kägi!) durch das Band des Rechts zusammengehalten wird. Diese Idee
wurde erstmals vom Begründer des modernen Rechtsstaates, von
Montesquieu, so formuliert ("de l'esprit des lois").
Entscheidend ist nun, dass im Rechtsstaat das Recht damit zur
Funktionalität der Liebe wird - wiewohl es sich als relative Grösse
immer von ihr unterscheiden wird.
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Auf
die Todesstrafe bezogen: Das Recht muss auch hier auf die Liebe
hin transparent gemacht werden. Es muss zwar Recht mit
Durchsetzungsmöglichkeit des Rechts, notfalls durch Gewalt, sein,
aber es muss menschliches Recht sein; Recht, das sich als relative
Grösse versteht; Recht, das sich selber begrenzt und ständig
versucht, auf die Liebe hin transparent zu sein. |
(Nebenbemerkung: Recht ist also nicht schon dadurch
Recht, dass es auf legalistischem Weg, etwa durch Mehrheitsbeschluss
des Volkes aufgerichtet wurde, vgl. Kägi: Problem
"demokratischer Rechtsstaat" und "rechtsstaatliche
Demokratie".)
Ein Rechtstaat, der sich in diesem Sinne versteht,
wird sich nun aber entschieden davor hüten, sich zum absoluten
Richter über Leben und Tod aufzuschwingen. (Wo er es - etwa im
Verteidigungskrieg - trotzdem tut, bleibt er schuldig). Der
Rechtsstaat wird gerade seine eigenen Machtmittel einschränken und
auf absolute Strafen, die irreversibel sind (siehe oben) verzichten:
auch Strafen sind relative Grössen.
Er wird noch weiter gehen und versuchen, sein Recht
auf die Liebe hin transparent zu machen, indem er für einen
menschliche Strafvollzug sorgt, der den Verbrecher nicht als
Nicht-Menschen aus der Solidarität der Mitbürger ausstösst (Frage
der Reform des Strafvollzuges, sogar der Folter).
Ausgehend vom Terrorismus als geschichtlichem
Auslöser für den neuen Ruf nach der Todesstrafe für Gewaltverbrecher
wurden einige Gründe für diesen Ruf genannt. Sie zeigen, dass die
Todesstrafe weithin als endgültige Auslöschung und damit als absolute
Strafe verstanden wird. Verschiedene, eher pragmatische Argumente contra
zeigen deren Fragwürdigkeit. Sie ist vor allem in ihrer
Irreversibilität begründet.
Die theologische Wertung stellt zuerst einmal fest,
dass "Schuld" nicht extremisiert werden darf. Im Lichte des
Evangeliums zeigt sich die provozierende Solidarität Gottes auch mit
diesem Menschen und sein Eingegliedertsein in den menschlichen Verband
der Sünder, denen allen Gottes Gnadenangebot gilt. Eine kurze
Betrachtung des Rechtsstaates zeigte das Wesen des Rechtes als
Funktionalität der Liebe. Das Recht begrenzt sich selber, hütet sich
vor absoluten Strafen und versucht, auf die Liebe hin transparent zu
sein.
Von einer christlichen Ethik her ist aus diesen
Gründen jede Todesstrafe strikte abzulehnen.
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Inhalt
Der neue
Ruf nach der Todesstrafe für Gewaltverbrecher
Geschichtlicher
Auslöser
Begründungen
Argumente gegen die
Todesstrafe
Theologische Wertung
der Todesstrafe
Die Extremisierung
von "Schuld"
Der
Gewaltverbrecher im Licht des Evangeliums
Das Recht als Funktionalität
der Liebe
Zusammenfassung
Der neue Ruf nach der Todesstrafe steht
im
Zusammenhang mit der Erfahrung einer gewissen Ohnmacht des Rechtsstaates
gegenüber den Methoden des modernen Terrorismus, der bewusst Leben
gegen Leben ausspielt.
Die
Todesstrafe wird verstanden als völlige Vernichtung,
Auslöschung, Endlösung. Sie erhält so den Charakter von etwas
Absolutem.
Die Irreversibilität der Todesstrafe
birgt schwerwiegende Probleme.
Die
abschreckende Wirkung der Todesstrafe ist nicht gegeben.
Es
geschieht eine Extremisierung,
wenn der Mensch, der ein Gewaltverbrechen begangen hat, nur noch unter
dem Aspekt "Gewaltverbrecher" gesehen wird.
Der Gewaltverbrecher ist und bleibt Abbild Gottes.
Es
bleibt das Recht Gottes auf den Menschen
als seine Kreatur, die er ins Leben gerufen hat.
Durch
die Inkarnation hat sich Gott in Jesus Christus solidarisch auch
mit dem Gewaltverbrecher gemacht.
Jesus
hat sich zum Bruder der Verbrecher und uns zu dessen Mitbrüdern
erklärt.
Auch der Verbrecher
muss als Glied am Leibe Christi
verstanden werden.
Im
Lichte des Zornes Gottes rücken alle Menschen zusammen zu einer
Einheit der Sünder.
Auch der Gewaltverbrecher bleibt in der Gemeinschaft und
Solidarität der Schuldigen und auch ihm gilt Gottes unbedingtes
Gnadenangebot in Jesus Christus.
Im Lichte des Evangeliums zeigt sich, dass
auch der Gewaltverbrecher nicht als Nicht-Mensch aus der Gesellschaft
ausgestossen werden darf.
Staat kommt nicht ohne Macht und Gewalt aus: Macht ohne Recht ist tyrannisch, Recht ohne Macht
ist ohnmächtig.
Die moderne Idee des Rechtsstaates ist
sich selbst begrenzende Macht.
Recht
muss sich als relative
Grösse verstehen, sich selber begrenzen und ständig versuchen, auf die Liebe hin transparent zu sein.
Ein Rechtstaat, der sich in diesem Sinne versteht,
wird sich entschieden davor hüten, sich zum absoluten
Richter über Leben und Tod aufzuschwingen.
Von einer christlichen Ethik her ist
jede Todesstrafe strikte abzulehnen.
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