Einleitende Besinnung zur
Wintersynode 2000
Montag, 4. Dez. 2000, Grossratssaal St. Gallen
Pfr. Dr. Dölf Weder, Kirchenratspräsident
Bei meiner
Bibellektüre bin ich kürzlich in der Apostelgeschichte auf zwei Verse
gestossen, die recht unscheinbar am Ende einer Geschichte und eines
Gebetes stehen. Sie enthalten nach meiner Meinung eine für uns Christen
heute sehr kraftvolle und sehr herausfordernde Botschaft.
Der Kontext ist
die Geschichte von der Heilung des Gelähmten an der Schönen Tür des
Tempels in Jerusalem. Es ist die erste Heilungsgeschichte nach
Pfingsten, die Heilung eines von Geburt an gelähmten Mannes durch den
Apostel Petrus. Petrus und Johannes treffen diesen gut 40-jährigen Mann
als Bettler am Eingang des Tempels in Jerusalem. Petrus sieht ihn an und
sagt: „Silber und Gold habe ich nicht. Ich habe etwas anderes, das
will ich dir geben. Du sollst tun, was Jesus Christus, der Nazoräer,
dich tun heisst: Geh umher!“ ((Apg. 3, 6). Der Mann springt auf und ist geheilt.
Petrus und Johannes aber sprechen nun zum Volk und bezeugen ihren
Glauben an Jesus, den Christus.
Da werden sie von
der Tempelwache ergriffen und den Priestern und Ältesten vorgeführt.
Unerschrocken bezeugen sie den Auferstandenen. Schliesslich muss man sie
entlassen, versehen mit einem Redeverbot. Johannes und Petrus kehren zu
ihren Freunden zurück, berichten, was sie erlebt haben, und alle rufen
gemeinsam in einem Lobgesang Gott an.
Und dieses Gebet
nun endet mit den Worten, die ich uns heute auf unseren kirchlichen Weg
mitgeben möchte. Es ist eine Bitte um mutiges Reden und um glaubhaftes
Handeln. Ich lese Apostelgeschichte 4, Verse 29 und 30 in der Übersetzung
von Jörg Zink:
„Gib deinen
Knechten Mut, dein Wort in aller Freiheit zu sagen. Hilf uns und gib uns
Kraft, dass durch uns geschieht, was Jesus, dein Sohn, will: dass
Menschen geheilt werden, dass sie Zeichen deiner Macht sehen und über
deinen Taten dich erkennen.“
Gib deinen
Knechten Mut, dein Wort in aller Freiheit zu sagen
„Gib deinen
Knechten Mut, dein Wort in aller Freiheit zu sagen“, das ist die erste
Bitte in diesem Gebetsabschnitt.
Diesen Satz müssen
wir nach meiner Meinung hier in unserer St. Galler Kirche wieder neu
beten lernen. Wir werden zwar nicht mehr vor Priester und Älteste
gestellt. Aber wir haben Angst vor einer mächtigen Dame: vor der Dame
„öffentliche Meinung“.
Es gibt mir zum
Beispiel schwer zu denken, dass ich in den letzten zwei Jahren nun
mehrmals Diskussionen darüber erlebte, ob in einem Stelleninserat, in
einer Broschüre oder in einem Zeitungsartikel die Worte
„christlich“, „kirchlich“ oder „evangelisch-reformiert“ erwähnt
sein sollen, oder ob das die Leute abschrecken könnte. In verschiedenen Fällen
wurden diese Begriffe unsere ureigenste Identität ausmachende Begriffe
– schamhaft oder opportunistisch verschwiegen.
Eine andere Form
der Angst vor dieser angeblichen „öffentlichen Meinung“ ist,
ausserhalb unserer Gottesdiensträume nur noch von der sozialen oder der
verwaltungstechnischen Funktion unserer Kirche zu sprechen.
Wir tun uns
schwer, zu unserem Glauben zu stehen und in einer einfachen
Alltagssprache zu sagen, worum es denn beim uns anvertrauten Evangelium
letztlich geht: Um Gottes Liebe zu uns Menschen, zu uns immer wieder
schwachen und schuldigen Menschen. Um die in Jesus Christus sichtbare
Liebe, die uns befähigt und ermutigt zur Liebe für unsere Mitmenschen
und für die Welt.
Wer mich kennt,
weiss, dass ich nicht vielen frommen Worten das Wort rede. Aber ich rede
einem offenen, glaubhaften christlichen Zeugnis im Alltag der Welt das
Wort.
Wenn wir als Christen in
unserer Gesellschaft relevant, also für die Menschen wichtig sein
wollen, dann können wir das nur, wenn wir genau wissen, für welches
Evangelium wir stehen. Wir können es nur, wenn wir dieses Wort in aller
Freiheit und Offenheit weitersagen. So, wie es Artikel 2 unserer
Kirchenverfassung als unser Auftrag formuliert:
„Die evangelisch-reformierte
Kirche des Kantons St. Gallen erkennt als ihren Auftrag, Jesus Christus
als das Haupt der Kirche und den Herrn der Welt zu verkündigen und
durch ihr dienendes Handeln das angebrochene Reich Gottes zu
bezeugen.“
Gib deinen
Knechten Mut, dein Wort in aller Freiheit zu sagen.
Nun hat dieser
Bibelvers aber - wie auch der soeben gehörte Kirchenverfassungsartikel
– noch einen zweiten Teil:
„Hilf uns und
gib uns Kraft, dass durch uns geschieht, was Jesus, dein Sohn, will:
dass Menschen geheilt werden, dass sie Zeichen deiner Macht sehen und über
deinen Taten dich erkennen.“
Da ist nun neben
klaren Worten auch von Taten, von Heilung, von Zeichen und Wundern die
Rede. Das sollten wir nicht vorschnell symbolisch verharmlosen. Nein,
von uns Christen sind neben glaubhaften Worten auch glaubhafte Taten
gefordert.
„Gefordert“
ist dabei allerdings das falsche Wort. Unser Bibelvers ist ja ein Gebet,
eine Bitte also. Die Bitte, dass Gott uns hilft und uns Kraft gibt,
damit durch uns geschieht, was Jesus Christus, was Gottes Sohn will:
dass Menschen geheilt werden, dass sie Zeichen von Gottes Macht sehen
und durch Taten Gott selber erkennen.
Glaube wächst
dabei nach unserem Text auch aus dem Erleben von Taten und nicht nur aus
dem Wort.
Es geht in
diesem zweiten Teil also um unser Bitten, dass Gott uns befähige zu
solchen Glaubhaftigkeit und Glauben schaffenden Taten.
Was sind aber
solche Taten des Glaubens? Gelähmte zu heilen und andere Wundertaten
liegen wohl kaum - oder zumindest sehr selten – in unserer Reichweite.
Aber in unserem alltäglichen Leben Taten der Liebe und der
Mitmenschlichkeit zu vollbringen statt Gleichgültigkeit, Nörgelei oder
gar Aggression zu leben, das liegt sehr wohl in unserer Reichweite, und
zwar sowohl als einzelne Christen wie auch als kirchliche Gemeinde.
Das bedeutet zum
Beispiel sozial-diakonisches Handeln, sowohl als einzelne Christen wie
auch als christliche Gemeinde. Es bedeutet gut zuhören, glaubhaft reden
und dienend handeln.
Vielleicht müssen
wir wieder neu lernen, Gott jeden Morgen zu bitten, dass er uns für den
Tag sehende Augen und hörende Ohren gibt, und dazu ein Herz, das uns
unsere Mitmenschen lieben lässt.
Ich möchte aber
den Kreis unserer möglichen Taten noch eine Dimension weiter ziehen und
an einem Beispiel konkretisieren. Auch da gehören Wort und Tat
zusammen.
Wider
Ausländerfeindlichkeit, Rassismus und Rechtsextremismus
Mit dem in Kürze
beginnenden Jahr 2001 startet die Dekade zur Überwindung von Gewalt.
Wie vor einiger Zeit die Frauendekade, dauert auch sie 10 Jahre lang,
das heisst bis zum Jahr 2010.
Die Dekade zur Überwindung
von Gewalt ist entstanden aus dem leidenschaftlichen Engagement des
Oekumenische Rates der Kirchen für Gerechtigkeit, Frieden und die
Bewahrung der Schöpfung. In der Botschaft der Achten
OeRK-Vollversammlung, also 1998 in Harare, bezeugten die Delegierten in
Vertretung auch unserer Kirche:
„Wir
sind durchdrungen von der Vision einer Kirche, dem Volk Gottes auf dem
Weg miteinander, das Einspruch erhebt gegen alle Trennungen aufgrund von
Rasse, Geschlecht, Alter oder Kultur, das Gerechtigkeit und Frieden zu
verwirklichen sucht und die Integrität der Schöpfung achtet.“
Diese Vision von
christlicher Kirche ist alles andere als ein harmloses Programm. Sie ist
„scharfer Tabak“. Eine solche Vision erfordert unser deutliches
Reden und unser engagiertes Tun.
Lasst mich ein
aktuelles Beispiel nehmen: Die verbale und die körperliche Gewalt gegen
mit und neben uns lebende Mitmenschen in der Form von Ausländerfeindlichkeit,
Rassismus und Rechtsextremismus.
Die nächtliche
Konfrontation hier vor unserer Kantonsschule in St. Gallen ist uns allen
wohl noch in lebhafter Erinnerung. In der wenige Tage darauf folgenden
Protestdemonstration gegen Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit
hat unter anderen auch Beat Dietschy als OEME Beauftragter unserer
Kantonalkirche vor dem Waaghaus das Wort ergriffen.
Viel subtiler
aber als bei dieser medienwirksamen Konfrontation wurde in den letzten
Monaten die Ausländerfeindlichkeit nicht nur zunehmend stammtischfähig,
sondern schleichend auch salonfähig und familientischfähig.
Ich spreche jetzt
nicht vom sachlichen Abwägen darüber, wie viele Ausländer
sinnvollerweise in der Schweiz leben sollen, und wie man sie möglichst
gut integrieren kann. Diese Diskussion ist politisch legitim und darf
von uns nicht schlecht gemacht werden. Ich spreche hier von diese
Diskussion begleitendem, ausländerfeindlichem Reden. Es wurzelt
letztlich meist in einer Angst vor dem uns Fremden, in einer Angst vor
Ausländern und ihrem schwer verständlichen Anders-Sein.
Von dieser Angst
und Feindlichkeit sind auch christliche Kreise betroffen. So hörte ich
beispielsweise in den letzten Monaten nicht nur einmal, wir Kirchen müssten
unsere reformierten zeugungsfähigen Eltern aufrufen, mehr Kinder zu
haben, damit der Bevölkerungsnachwuchs nicht plötzlich zugunsten der
Muslime kippe.
Bei all den
Formen von subtiler Angst vor den Ausländern und von offensichtlicher
Ausländerfeindlichkeit gilt es im Namen Gottes und der Menschen
deutliche Worte zu sagen und deutlich Stellung zu beziehen.
Nicht in naiver
Verharmlosung von kulturellen Unterschieden.
Und nicht in
naiver Verharmlosung von unakzeptablen Formen des Austragens von
Konflikten und Meinungsverschiedenheiten. Unrecht und Gewalt sind und
bleiben Unrecht und Gewalt, wer auch immer sie verübt. Ihnen haben wir
uns entgegen zu stellen, wer auch immer sie verübt.
Und drittens auch
nicht in naiver Verharmlosung der schwierigen und aufwendigen täglichen
Arbeit, welche die Integration von Ausländern und Schweizern in einer
gemeinsamen Gesellschaft bedeutet, zum Beispiel im Bereich der Schule.
Das bedeutet tägliche engagierte Arbeit. Sie erfordert oft sehr
schwierige, differenzierte Entscheide. Diese Arbeit ist mit einigen schönen
Schlagworten nicht geleistet.
Es gilt hingegen,
allen pauschalen Ängsten, Vorurteilen und Verurteilungen deutlich und
klar entgegen zu treten. Es gilt allem Ausgrenzen deutlich und klar
entgegen zu treten. Es gilt allen verbalen und tätlichen Formen von
Aggression und Gewalt deutlich und klar entgegen zu treten.
Interreligiöser
Dialog als die grosse Herausforderung des 21. Jahrhunderts
Nun sind aber
auch solche deutliche und klare Worte immer noch eine relativ billige
Sache, wenn sie nicht von angemessenen Taten begleitet werden.
Ich glaube, wenn
wir St. Galler Christen diese Herausforderung und die Botschaft unseres
Bibelverses mit der Bitte um Worte und Taten ernst nehmen wollen, dann
gilt es, noch einen weiteren Schritt zu tun.
Wir Christen und
Kirchgemeinden müssen uns heute ernsthaft fragen, was gerade unser
spezieller Beitrag zur Integration von Nicht-Schweizern in unserer
Gemeinschaft ist.
Die Menschen,
denen es heute beizustehen gilt, liegen nicht mehr so offensichtlich gelähmt
am Eingang zum Tempel. Sie leben - oft nicht weniger gelähmt, aber
unserem Auge verborgen – mitten unter uns. An ihnen und mit ihnen gilt
es, zum einen, sozial-diakonisch zu handeln.
Unser Kernthema als Kirche ist
Religion und Leben aus dem Glauben. Gerade wir Christen und
Kirchgemeinden sind daher, zum anderen, zu einem offenen und verstehen
wollenden Dialog mit unseren muslimischen Mitmenschen als Muslime
aufgerufen. Das ist nicht leicht. Und gelegentliche Kirchgemeindeessen
mit ausländischen Speisen allein reichen da nicht.
Das 21.
Jahrhundert wird aber genauso das Jahrhundert des interreligiösen
Dialoges werden wie das 20. Jahrhundert dasjenige des innerchristlichen
oekumenischen Dialoges war.
Und der
Schwierigkeitsgrad der heutigen Herausforderung ist mit Sicherheit nicht
niedriger als jener der Herausforderung durch die innerchristliche
Oekumene. Jener haben wir uns gestellt. Dieser müssen wir uns heute
stellen.
Liebe Synodale,
Lasset uns darum
beten:
Grosser
Gott,
gib
uns als deinen Knechten Mut,
dein
Wort in aller Freiheit zu sagen.
Hilf
uns und gib uns Kraft,
dass
durch uns geschieht,
was
Jesus, dein Sohn, will:
dass
Menschen geheilt werden,
dass
sie Zeichen deiner Macht sehen
und
über deinen Taten dich erkennen.
Amen.