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Zum Buch: Marianne Jehle-Wildberger,
Das Gewissen sprechen lassen, TVZ Zürich, 2001
Sehr geehrte Damen und Herren
Werte Synodale
Am 2. Dezember 1998, also
vor fast genau drei Jahren, beschloss die Synode, unser
Kirchenparlament, die Geschichte der Evangelisch-reformierten Kirche des
Kantons St. Gallen in den schwierigen Jahren 1933 bis 1945 historisch
aufarbeiten zu lassen. Der Synodalbeschluss beruhte auf einer Motion des
Synodalen Peter Zimmermann, Gossau. Ziel der Studie sollte sein,
Rechenschaft abzulegen über die Reaktionen zum politischen und
kirchenpolitischen Geschehen im nationalsozialistischen Deutschland,
insbesondere aber über die Haltung zu den Flüchtlingen und zur
schweizerischen Flüchtlingspolitik in dieser Zeitperiode.
Die Motion war 1998 nicht unbestritten. Wollte sich etwa die heutige
Generation von Kirchengliedern aus sicherer Distanz zum Richter
aufschwingen über kirchliche Behörden und Mitglieder, die an exponierter
Stelle in einer schwierigen Zeit schwerwiegende Entscheide zu fällen
hatten? Das wäre anmassend. Oder wollte man sich selber mit den Federn
beherzten Einstehens von engagierten Christinnen und Christen in dieser
Zeit schmücken? Auch das wäre eine Anmassung. Hinzu kommt, dass jede
Geschichtsschreibung nur eine Annäherung an die historische Wahrheit
leisten, ihr jedoch nie umfassend gerecht werden kann.
Trotzdem erweitern Erkenntnisse, die im Umgang mit der Geschichte
gewonnen werden, unseren eigenen Erfahrungsspielraum. Sie schärfen den
Blick für Themen und Vorgänge, die auch unsere heutige Zeit bestimmen.
Sie machen uns die Verantwortung für unser eigenes Handeln in Gegenwart
und Zukunft bewusst.
Und so versteht der Kirchenrat denn das Resultat der Studie von Marianne
Jehle-Wildberger nicht nur als Bild einer 50 Jahre zurück liegenden
Epoche, sondern auch als Aufruf zur Verantwortungsübernahme unserer
eigenen Generation. Immer noch gilt es, Verstand und Gewissen sprechen
zu lassen, auch wenn daraus Schwierigkeiten resultieren sollten.
Mit Marianne Jehle-Wildberger konnte eine
erfahrene Historikerin gewonnen werden, die bereits in ihrer
Lizentiatsarbeit in den frühen Sechzigerjahren der Frage nachging, wie
die evangelisch-reformierten Schweizer Kirchen auf den Kirchenkampf in
Deutschland reagiert hatten. Später leistete sie verschiedene Beiträge
zur Geschichte von Kanton und Stadt St. Gallen. Ihre Arbeit im Auftrag
der Kantonalkirche nahm sie mit grossem Elan auf. Viele Male kam sie ins
Haus zur Perle, um in alten Protokollen und Briefen zu lesen. Hinzu kam
Quellenforschung in weiteren Archiven in St. Gallen, Zürich und Bern,
sowie die Befragung verschiedener Zeitzeugen. Frau Jehle beschäftigte
sich selbstverständlich auch ausgiebig mit der gedruckten klassischen
und neuen Fachliteratur zum Thema, bis hin zum Bergier-Bericht. Sie fand
dabei viel bisher Unbekanntes und Neues. Als Resultat liegt heute ein
Buch vor, das fachlich fundiert ist, sich gut, ja spannend liest und
emotional berührt. Der Kirchenrat ist dankbar dafür, und auch für die
Bereitschaft des renommierten Theologischen Verlages Zürich (TVZ), das
Werk zu verlegen.
Das Wichtigste zusammen gefasst: In unserer
St. Galler Kirche hat in den fraglichen Jahren eine Reihe von
bedeutenden Persönlichkeiten gewirkt, die sich in der Frage der
jüdischen Flüchtlinge lokal, kantonal und national tatkräftig engagiert
und auch exponiert haben. Unter anderen sind zu nennen Pfarrer Richard
Pestalozzi, der Textilunternehmer Robert Sturzenegger, der Kunstmaler
Willy Fries, das Ehepaar Dora und Ludwig Rittmeyer, Nationalrat, und
viele andere. Besonders beeindruckend ist die 14-jährige
Sekundarschülerin Heidi Weber, übrigens auch später ein wichtiges
Mitglied unserer evangelisch-reformierten Kirche. Sie hat in der
Flüchtlingsfrage persönlich mit Bundesrat Edouard von Steiger
korrespondiert und dafür einige Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen
müssen. Man muss aber auch an die vielen namenlosen Männer und Frauen
denken, die in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit aus heutiger Sicht
fast unglaublich hohe Kirchenkollekten und „Flüchtlingsbatzen“ zusammen
trugen. Zu erwähnen ist auch die wichtige Rolle der Protestantischen
Vereinigung St. Gallen. Sie und andere Gesprächszirkel haben unserem
Kanton durch Vorträge führender Persönlichkeiten und durch vielfältige
Diskussionen geholfen, bereits früh ein beachtliches Problembewusstsein
zu entwickeln.
Natürlich gab es auch Zögerlichkeit,
Gleichgültigkeit und menschliches Versagen in unserer Kirche. Nicht alle
waren mutig genug, nicht alle haben die Situationen richtig
eingeschätzt. Dazu hat sich unsere Kirche bereits während und kurz nach
den Kriegsjahren mehrfach und öffentlich bekannt. So erklärte zum
Beispiel am 24. Juni 1945 der damalige Präsident der Synode, Henry
Tschudi, in seiner Eröffnungsansprache: „Ein Versagen des
Humanitätsgedankens, entfesselte Technik und soziale Gegensätze sind die
Quellen des hinter uns liegenden Krieges. Die Kirche ist durch ihr
Schweigen mitschuldig geworden.“
Auch religiös begründete Judenfeindschaft und rassistischer
Antisemitismus kamen vor. Vielleicht liegt eine wichtige Lektion dieser
Geschichtsperiode für uns heute gerade darin, dass sie uns zeigt, dass
wir dort besonders anfällig sind für Fehleinschätzungen und menschliche
Schuld, wo uns mitgebrachte Vorurteile den klaren Blick auf die
Realitäten trüben. Eine Lektion, die es gerade auch im Blick auf unser
heutiges Umgehen mit Menschen aus anderen Kulturen und Religionen
sorgfältig im Auge zu behalten gilt.
Staunen dürfen wir aber im Rückblick vor allem
über das viele Positive und Engagierte in unserer Kirche damals.
Marianne Jehle-Wildberger erklärt es mit drei Hauptfaktoren: das tief
verankerte rechtsstaatliche Bewusstsein vieler Kirchenglieder, die
solide kirchliche Tradition und die kräftigen Impulse der in unserem
Kanton stark präsenten religiössozialen und dialektischen Theologie.
So führte denn diese Zeitperiode auch zu verheissungsvollen Schritten im
ökumenischen Dialog zwischen Protestanten und Katholiken und zu ersten
Ansätzen einer neuen Auseinandersetzung mit der jüdischen Religion. Eine
grosse Bereicherung für die St. Galler Kirche waren auch Pfarrerinnen
und Pfarrer, die wegen politischen und rassischen Gründen aus
Deutschland hatten emigrieren müssen. Zu nennen sind der grosse
Neutestamentler Karl Ludwig Schmidt, der in einer menschlich schier
ausweglosen Lage Pfarrer in Lichtensteig werden konnte, oder Pfarrer
Reinhold Schmälzle. Dieser war ein Schwager des weltberühmten jüdischen
Pianisten Rudolf Serkin. Als das nationalsozialistische Regime von ihm
verlangte, sich von seiner Frau zu scheiden, wählte er lieber die
Emigration. Hier in St. Gallen im Dienst der Stadtmission setzte er dann
wichtige kirchliche und kulturelle Akzente.
Vieles wäre noch zu erwähnen. Gehen Sie selber im Buch auf
Entdeckungsreise. Im Namen des Kirchenrates und der Synode danken wir
Frau Marianne Jehle-Wildberger ganz warm und herzlich für ihre grosse
und fundierte Arbeit.
„Das Gewissen sprechen lassen“
ist ein Aufruf, den die behandelte Zeit und Generation auch an uns
weiter gibt. Der heutigen menschlichen Probleme und Herausforderungen
sind viele. Wir alle tragen Verantwortung für unsere Reaktionen und
Handlungen - als einzelne Christen, als kirchliche Behörden und als
Synodale. Es gilt, die Realitäten und Notsituationen der Menschen von
heute ganz ernst zu nehmen und dem Gewissen verpflichtet zu entscheiden,
was der Christusbotschaft entsprechend zu tun ist. „Nahe bei Gott – nahe
bei den Menschen“ fassen wir in unserer Kantonalkirche diesen Auftrag
heute in Kurzform zusammen. „Das Gewissen sprechen lassen“ rufen uns
unsere christlichen Väter und Mütter zu.
19. November 2001
Im Namen des Kirchenrates
Der Präsident: Dölf Weder, Pfr. Dr. theol.
Der Kirchenschreiber: Markus Bernet
© 2001 by Evangelisch-reformierte Kirche des Kantons
St. Gallen
www.ref.ch/sg,
st.gallen@ref.ch
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Inhalt
Die Motion
Die Studie
Beachtliches Engagement
Mitschuldig geworden
Hauptfaktoren
Das Gewissen
sprechen lassen
Die Studie - Aufruf zur
Verantwortungs-übernahme unserer eigenen Generation.
Bedeutende Persönlichkeiten, hohe
Kollekten, frühes Problembewusstsein
Henry Tschudi:
„Ein Versagen des Humanitätsgedankens, entfesselte Technik und soziale
Gegensätze sind die Quellen des hinter uns liegenden Krieges. Die
Kirche ist durch ihr Schweigen mitschuldig geworden.“
Drei Hauptfaktoren: das tief
verankerte rechtsstaatliche Bewusstsein vieler Kirchenglieder, die
solide kirchliche Tradition und die kräftigen Impulse der im Kanton
stark präsenten religiössozialen und dialektischen Theologie.
„Das Gewissen sprechen lassen“
ist ein Aufruf, den die behandelte Zeit und Generation auch an uns
weiter gibt.
Es gilt, die Realitäten und
Notsituationen der Menschen von heute ganz ernst zu nehmen und
dem Gewissen verpflichtet zu entscheiden, was der
Christusbotschaft entsprechend zu tun ist.
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