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"Das Gewissen sprechen lassen"

Gedanken des Kirchenrates zur Buchpräsentation von Frau Marianne Jehle-Wildberger vom 30. November 2001 und zur Synode vom 3. Dezember 2001

 

 

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Zum Buch: Marianne Jehle-Wildberger, Das Gewissen sprechen lassen, TVZ Zürich, 2001


Sehr geehrte Damen und Herren
Werte Synodale

Am 2. Dezember 1998, also vor fast genau drei Jahren, beschloss die Synode, unser Kirchenparlament, die Geschichte der Evangelisch-reformierten Kirche des Kantons St. Gallen in den schwierigen Jahren 1933 bis 1945 historisch aufarbeiten zu lassen. Der Synodalbeschluss beruhte auf einer Motion des Synodalen Peter Zimmermann, Gossau. Ziel der Studie sollte sein, Rechenschaft abzulegen über die Reaktionen zum politischen und kirchenpolitischen Geschehen im nationalsozialistischen Deutschland, insbesondere aber über die Haltung zu den Flüchtlingen und zur schweizerischen Flüchtlingspolitik in dieser Zeitperiode.

Die Motion war 1998 nicht unbestritten. Wollte sich etwa die heutige Generation von Kirchengliedern aus sicherer Distanz zum Richter aufschwingen über kirchliche Behörden und Mitglieder, die an exponierter Stelle in einer schwierigen Zeit schwerwiegende Entscheide zu fällen hatten? Das wäre anmassend. Oder wollte man sich selber mit den Federn beherzten Einstehens von engagierten Christinnen und Christen in dieser Zeit schmücken? Auch das wäre eine Anmassung. Hinzu kommt, dass jede Geschichtsschreibung nur eine Annäherung an die historische Wahrheit leisten, ihr jedoch nie umfassend gerecht werden kann.

Trotzdem erweitern Erkenntnisse, die im Umgang mit der Geschichte gewonnen werden, unseren eigenen Erfahrungsspielraum. Sie schärfen den Blick für Themen und Vorgänge, die auch unsere heutige Zeit bestimmen. Sie machen uns die Verantwortung für unser eigenes Handeln in Gegenwart und Zukunft bewusst.

Und so versteht der Kirchenrat denn das Resultat der Studie von Marianne Jehle-Wildberger nicht nur als Bild einer 50 Jahre zurück liegenden Epoche, sondern auch als Aufruf zur Verantwortungsübernahme unserer eigenen Generation. Immer noch gilt es, Verstand und Gewissen sprechen zu lassen, auch wenn daraus Schwierigkeiten resultieren sollten.

Mit Marianne Jehle-Wildberger konnte eine erfahrene Historikerin gewonnen werden, die bereits in ihrer Lizentiatsarbeit in den frühen Sechzigerjahren der Frage nachging, wie die evangelisch-reformierten Schweizer Kirchen auf den Kirchenkampf in Deutschland reagiert hatten. Später leistete sie verschiedene Beiträge zur Geschichte von Kanton und Stadt St. Gallen. Ihre Arbeit im Auftrag der Kantonalkirche nahm sie mit grossem Elan auf. Viele Male kam sie ins Haus zur Perle, um in alten Protokollen und Briefen zu lesen. Hinzu kam Quellenforschung in weiteren Archiven in St. Gallen, Zürich und Bern, sowie die Befragung verschiedener Zeitzeugen. Frau Jehle beschäftigte sich selbstverständlich auch ausgiebig mit der gedruckten klassischen und neuen Fachliteratur zum Thema, bis hin zum Bergier-Bericht. Sie fand dabei viel bisher Unbekanntes und Neues. Als Resultat liegt heute ein Buch vor, das fachlich fundiert ist, sich gut, ja spannend liest und emotional berührt. Der Kirchenrat ist dankbar dafür, und auch für die Bereitschaft des renommierten Theologischen Verlages Zürich (TVZ), das Werk zu verlegen.

Das Wichtigste zusammen gefasst: In unserer St. Galler Kirche hat in den fraglichen Jahren eine Reihe von bedeutenden Persönlichkeiten gewirkt, die sich in der Frage der jüdischen Flüchtlinge lokal, kantonal und national tatkräftig engagiert und auch exponiert haben. Unter anderen sind zu nennen Pfarrer Richard Pestalozzi, der Textilunternehmer Robert Sturzenegger, der Kunstmaler Willy Fries, das Ehepaar Dora und Ludwig Rittmeyer, Nationalrat, und viele andere. Besonders beeindruckend ist die 14-jährige Sekundarschülerin Heidi Weber, übrigens auch später ein wichtiges Mitglied unserer evangelisch-reformierten Kirche. Sie hat in der Flüchtlingsfrage persönlich mit Bundesrat Edouard von Steiger korrespondiert und dafür einige Unannehmlichkeiten in Kauf nehmen müssen. Man muss aber auch an die vielen namenlosen Männer und Frauen denken, die in einer wirtschaftlich schwierigen Zeit aus heutiger Sicht fast unglaublich hohe Kirchenkollekten und „Flüchtlingsbatzen“ zusammen trugen. Zu erwähnen ist auch die wichtige Rolle der Protestantischen Vereinigung St. Gallen. Sie und andere Gesprächszirkel haben unserem Kanton durch Vorträge führender Persönlichkeiten und durch vielfältige Diskussionen geholfen, bereits früh ein beachtliches Problembewusstsein zu entwickeln.

Natürlich gab es auch Zögerlichkeit, Gleichgültigkeit und menschliches Versagen in unserer Kirche. Nicht alle waren mutig genug, nicht alle haben die Situationen richtig eingeschätzt. Dazu hat sich unsere Kirche bereits während und kurz nach den Kriegsjahren mehrfach und öffentlich bekannt. So erklärte zum Beispiel am 24. Juni 1945 der damalige Präsident der Synode, Henry Tschudi, in seiner Eröffnungsansprache: „Ein Versagen des Humanitätsgedankens, entfesselte Technik und soziale Gegensätze sind die Quellen des hinter uns liegenden Krieges. Die Kirche ist durch ihr Schweigen mitschuldig geworden.

Auch religiös begründete Judenfeindschaft und rassistischer Antisemitismus kamen vor. Vielleicht liegt eine wichtige Lektion dieser Geschichtsperiode für uns heute gerade darin, dass sie uns zeigt, dass wir dort besonders anfällig sind für Fehleinschätzungen und menschliche Schuld, wo uns mitgebrachte Vorurteile den klaren Blick auf die Realitäten trüben. Eine Lektion, die es gerade auch im Blick auf unser heutiges Umgehen mit Menschen aus anderen Kulturen und Religionen sorgfältig im Auge zu behalten gilt.

Staunen dürfen wir aber im Rückblick vor allem über das viele Positive und Engagierte in unserer Kirche damals. Marianne Jehle-Wildberger erklärt es mit drei Hauptfaktoren: das tief verankerte rechtsstaatliche Bewusstsein vieler Kirchenglieder, die solide kirchliche Tradition und die kräftigen Impulse der in unserem Kanton stark präsenten religiössozialen und dialektischen Theologie.

So führte denn diese Zeitperiode auch zu verheissungsvollen Schritten im ökumenischen Dialog zwischen Protestanten und Katholiken und zu ersten Ansätzen einer neuen Auseinandersetzung mit der jüdischen Religion. Eine grosse Bereicherung für die St. Galler Kirche waren auch Pfarrerinnen und Pfarrer, die wegen politischen und rassischen Gründen aus Deutschland hatten emigrieren müssen. Zu nennen sind der grosse Neutestamentler Karl Ludwig Schmidt, der in einer menschlich schier ausweglosen Lage Pfarrer in Lichtensteig werden konnte, oder Pfarrer Reinhold Schmälzle. Dieser war ein Schwager des weltberühmten jüdischen Pianisten Rudolf Serkin. Als das nationalsozialistische Regime von ihm verlangte, sich von seiner Frau zu scheiden, wählte er lieber die Emigration. Hier in St. Gallen im Dienst der Stadtmission setzte er dann wichtige kirchliche und kulturelle Akzente.

Vieles wäre noch zu erwähnen. Gehen Sie selber im Buch auf Entdeckungsreise. Im Namen des Kirchenrates und der Synode danken wir Frau Marianne Jehle-Wildberger ganz warm und herzlich für ihre grosse und fundierte Arbeit.

Das Gewissen sprechen lassen“ ist ein Aufruf, den die behandelte Zeit und Generation auch an uns weiter gibt. Der heutigen menschlichen Probleme und Herausforderungen sind viele. Wir alle tragen Verantwortung für unsere Reaktionen und Handlungen - als einzelne Christen, als kirchliche Behörden und als Synodale. Es gilt, die Realitäten und Notsituationen der Menschen von heute ganz ernst zu nehmen und dem Gewissen verpflichtet zu entscheiden, was der Christusbotschaft entsprechend zu tun ist. „Nahe bei Gott – nahe bei den Menschen“ fassen wir in unserer Kantonalkirche diesen Auftrag heute in Kurzform zusammen. „Das Gewissen sprechen lassen“ rufen uns unsere christlichen Väter und Mütter zu.


19. November 2001
Im Namen des Kirchenrates
Der Präsident: Dölf Weder, Pfr. Dr. theol.
Der Kirchenschreiber: Markus Bernet
 

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     www.weder.ch     Last updated: 27.12.23

   
Inhalt

Die Motion

Die Studie

Beachtliches Engagement

Mitschuldig geworden

Hauptfaktoren

Das Gewissen sprechen lassen

 

 

 

 

 

Die Studie -  Aufruf zur Verantwortungs-übernahme unserer eigenen Generation.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Bedeutende Persönlichkeiten, hohe Kollekten, frühes Problembewusstsein

 

 

 

 

 

Henry Tschudi:
„Ein Versagen des Humanitätsgedankens, entfesselte Technik und soziale Gegensätze sind die Quellen des hinter uns liegenden Krieges. Die Kirche ist durch ihr Schweigen mitschuldig geworden.“

 

 

 

 

 

 

Drei Hauptfaktoren: das tief verankerte rechtsstaatliche Bewusstsein vieler Kirchenglieder, die solide kirchliche Tradition und die kräftigen Impulse der im Kanton stark präsenten religiössozialen und dialektischen Theologie.

 

 

 

„Das Gewissen sprechen lassen“ ist ein Aufruf, den die behandelte Zeit und Generation auch an uns weiter gibt.

 

Es gilt, die Realitäten und Notsituationen der Menschen von heute ganz ernst zu nehmen und dem Gewissen verpflichtet zu entscheiden, was der Christusbotschaft entsprechend zu tun ist.