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Ich war nie der fromme Typ

Er war 14 Jahre lang der höchste Reformierte des Kantons St. Gallen. Kirchenratspräsident Dölf Weder über seinen Glauben, die Schwäche der Landeskirche und Bischof Markus Büchel

 


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Interview von Andri Rostetter mit Kirchenratspräsident Pfr. Dr. Dölf Weder im Tagblatt, 5. März 2014

 

Doelf Weder - KirchenratszimmerDer Staat hat heute mit den Landeskirchen verlässliche Partner»: Dölf Weder.
(Bild: Urs Bucher, Tagblatt)

 

Herr Weder, gehen Sie jeden Sonntag in die Kirche?

Dölf Weder: Nein. Aber ich bin häufig in der Kirche. Nicht nur wegen meiner Funktion, sondern auch als Gottesdienstteilnehmer. Und in den Ferien im Süden gehe ich in katholische Kirchen.

Sie gehen in die Kirche, wenn Sie Lust haben?

Weder: Ich lege mir keinen Zwang auf: Wer jeden Sonntag in der Kirche sitzt, ist nicht automatisch ein guter Christ. Andererseits gehört der Gottesdienstbesuch zum Christsein.

Wie oft lesen Sie in der Bibel?

Weder: Jeden Morgen. Ich hatte lange ein schlechtes Gewissen, weil mein Glaubensleben zu wenig Regelmässigkeit hatte. Heute schliesse ich morgens die Bürotür und widme mich der Bibel und der Stille. Und vor das Einschlafen gehört ein Gebet. Bis ich soweit war, brauchte ich aber viele Jahre.

Sehen Sie sich als frommen Menschen?

Weder: Nein, ich war nie der fromme Typ. Aber ich habe gemerkt, dass mir gewisse Elemente des Glaubens wichtig sind und gut tun. Die Gebete und das Lesen in der Bibel sind für mich keine frommen Exerzitien, sondern ganz alltägliche Vorgänge.

Sie sagten einmal, Sie hätten Mühe, über Ihren Glauben zu sprechen.

Weder: Ich meinte damit die Mühe von vielen heutigen Reformierten, im Alltag Aussage über den Glauben zu machen. Als würde uns die Sprache dafür fehlen oder Scheu uns hemmen. Der Glaube ist etwas sehr Privates geworden. Man spricht heute fast leichter über Sexualität.

Woran glauben Sie denn? An die zehn Gebote? An die Hölle?

Weder: Ich glaube nicht an irgendwelche Dogmen. Glaube ist für mich eine Beziehung mit Gott und Jesus Christus. Die Bibel ist eine Sammlung von Berichten, wie Menschen ihre Jesus- und Gottesbeziehungen lebten. Diese Berichte sind sehr vielfältig, sehr unterschiedlich, manchmal auch widersprüchlich.

Dann ist die Bibel eine Art Leitfaden mit historischem Charakter?

Weder: Ja. Jeder Mensch muss seine eigene Gottesbeziehung entwickeln. Verstehen wir die Bibel zu wörtlich, verpassen wir leicht die entscheidende Botschaft. Nehmen wir die Schöpfungsgeschichte: Ich glaube nicht, dass die Welt in sieben Tagen erschaffen wurde. Ich sehe diese Geschichte vielmehr als Zeugnis von Menschen, welche die Erschaffung der Welt als Willen Gottes sahen – eine gute Welt, die aber durch das Handeln der Menschen auch zu einer schlechten werden kann. Die Schöpfungsgeschichte ist also nicht im historischen Sinne wahr, ihre Wahrheit liegt in ihrer tieferen Botschaft.

Ein Leserbriefschreiber formulierte kürzlich diesen Satz: Die reformierte Kirche trägt das Virus der Selbstauflösung in sich. Jeder ist Priester, der die Bibel lesen kann.

Weder: Wir hatten im Jahr 2000 eine Plakataktion mit dem Slogan «Selber denken. Die Reformierten». Die Reformierten haben keine Instanz, die sagt, was richtig und was falsch ist. Wir müssen uns ständig der Diskussion stellen und auf der Basis der biblischen Zeugnisse argumentieren. Aber genau diese Offenheit ist das Grossartige am reformierten Glauben.

Ist dieser Pluralismus nicht auch ein Problem? Viele Menschen sind gerade im Glauben dankbar um klare Anweisungen.

Weder: Das demokratische Prinzip ist eine Stärke der reformierten Kirche, aber auch eine Schwäche. Die Möglichkeit, zwischen unzähligen Dingen zu wählen, ist nicht nur ein Segen, sondern auch eine Belastung. Es verlangt mündige, selbstverantwortliche Menschen.

Der Glaube als Belastung? Kehren deshalb viele Menschen der Kirche den Rücken – gerade bei den Reformierten?

Weder: Die meisten Menschen treten nicht aus der Kirche aus, weil sie sich gegen den Glauben entscheiden, sondern weil der Glaube für sie nicht mehr relevant ist – oder weil sie schlicht Steuern sparen wollen.

Es bleibt aber eine Tatsache, dass die reformierte Kirche unter Mitgliederschwund leidet. 1990 betrug der Anteil an der Gesamtbevölkerung in der Schweiz 40 Prozent, heute sind es noch etwa 26 Prozent.

Weder: Das ist aber nicht nur eine Folge von Kirchenaustritten, sondern hat auch demographische Gründe. Die reformierte Kirche hat einen hohen Altersdurchschnitt. Und wir profitierten in den vergangenen Jahrzehnten kaum von der Zuwanderung; der grösste Teil der Immigration kam von Süden und damit aus katholischen Ländern.

Trotzdem: Die gesellschaftliche Relevanz der Landeskirchen sinkt.

Weder: Das ist unbestreitbar. Ich habe in meiner Amtszeit aber auch erlebt, dass vor allem bei Exekutivpolitikern das Bewusstsein für die gesellschaftliche Relevanz der Kirchen gewachsen ist. Sie sehen sich mit einer Gesellschaft konfrontiert, deren gemeinsamen Werte bröckeln. Deshalb glaube ich, dass unser landeskirchliches System noch länger bestehen wird. Aber es stimmt: Wenn die Mitgliederzahlen sinken, sinkt auch die Relevanz. Und das ist gefährlich.

Gefährlich?

Weder: Wir finanzieren der Gesellschaft heute viel – von der Spitalseelsorge über Religionsunterricht und kirchlichen Sozialdienst bis zum Erhalt historischer Gebäude. Wenn wir kein Geld mehr haben, können wir das nicht mehr leisten.

Mit welchen Konsequenzen?

Weder: Nehmen wir die Schule. Sie ist schon heute überfordert mit den Aufgaben und Funktionen, die man ihr aufbürdet. Nun soll sie auch noch – religionsneutral – Ethik unterrichten. Da frage ich: Was für eine Ethik denn? Auf welchem Fundament soll diese stehen?

Mit anderen Worten: Ein Staat ohne Landeskirchen ist ein Risiko für die Gesellschaft?

Weder: Der Staat hat heute mit den Landeskirchen verlässliche Partner, die eine verhältnismässig vernünftige Weltsicht vertreten. Bei einem total freikirchlichen System hat es der Staat mit allen möglichen Extremvarianten zu tun. Das sieht man in den USA. Kirche und Staat sind dort zwar strikt getrennt. Dafür haben fromme TV-Sender einen extremen Einfluss auf die Politik. In der Schweiz haben wir mit der Kooperation zwischen Landeskirchen und Staat ein System, das stabiler und deutlich konstruktiver für Gesellschaft und Politik ist.

Apropos Landeskirche: Wie kommen Sie mit den Katholiken im Kanton zurecht?

Weder: Ich verstehe mich sehr gut mit Bischof Markus Büchel…

…bei seiner Weihe sagten Sie, er sei mit seiner ökumenischen Haltung auch ein bisschen der Bischof der Reformierten.

Weder: Ja, da hat die ganze Kathedrale applaudiert. Natürlich ist Markus Büchel Katholik, aber ich glaube, dass wir uns theologisch relativ nahe sind. Aber auch sonst funktioniert die Zusammenarbeit erstaunlich gut für einen Kanton, in dem das konfessionelle Denken so lange eine starke Rolle gespielt hat. Ein Beispiel ist die gemeinsame Seelsorge im Kinderspital: Die Katholiken zahlen mit, die Stelle ist aber mit einer Protestantin besetzt.

Das tönt sehr harmonisch.

Weder: Ist es auch. Klar gibt es lokal auf der einen oder anderen Seite mal einen Betonkopf. Aber wir sitzen mindestens einmal im Jahr mit der Bistumsleitung und dem Administrationsrat zusammen, inklusive gemeinsames Nachtessen. Und wir sind jedes Jahr zur Neujahrsbegrüssung des Bischofs eingeladen.

Wer hat mehr Humor? Reformierte oder Katholiken?

Weder: Der katholische Humor ist vielleicht etwas behäbiger und sozialer. Unser Humor ist eher spitz, wir zündeln gern. Das kommt wohl daher, dass der typische Reformierte die Welt eher kritisch sieht.

 



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Inhalt

Kirche, Bibel und Glaube

Reformiert sein ist anspruchsvoll

Kirche und Gesellschaft

Ökumene

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

Ich war nie der fromme Typ. Die Gebete und das Lesen in der Bibel sind für mich keine frommen Exerzitien, sondern ganz alltägliche Vorgänge.

 

 

 

Glaube ist für mich eine Beziehung mit Gott und Jesus Christus.

 

 

Jeder Mensch muss seine eigene Gottesbeziehung entwickeln.

 

 

 

 

Die Reformierten haben keine Instanz, die sagt, was richtig und was falsch ist. Wir müssen uns ständig der Diskussion stellen und auf der Basis der biblischen Zeugnisse argumentieren.

 

 

 

 

 

Das demokratische Prinzip ist eine Stärke der reformierten Kirche. Aber es verlangt mündige, selbstverantwort-liche Menschen

 

 

 

 

 

Ich habe in meiner Amtszeit erlebt, dass vor allem bei Exekutivpolitikern das Bewusstsein für die gesellschaftliche Relevanz der Kirchen gewachsen ist.

 

 

 

Religionsneutrale Ethik an den Schulen - da frage ich: Was für eine Ethik denn? Auf welchem Fundament soll das stehen?

 

 

 

 

 

 

 

Natürlich ist Bischof Markus Büchel Katholik, aber ich glaube, dass wir uns theologisch relativ nahe sind.

 

 

 

 

Der typisch Reformierte sieht die Welt wohl eher kritisch.