Interview Daniel Klingenberg mit Pfr.
Dr. Dölf Weder, Kirchenratspräsident, gekürzt erschienen im
St. Galler Tagblatt
vom 7. Mai 2010
Der Kirchenratspräsident des Kantons St. Gallen,
Dölf Weder, hat keine Angst um die Zukunft der reformierten Kirche. Man
werde sie aber stärker an ihrer Glaubwürdigkeit messen.
Herr Weder, die Zahl der Reformierten ist stark
rückläufig. Ist das schlimm?
Es ist schlicht eine Tatsache. Ob sie „schlimm“ oder
eine Chance wird, hängt von unserem Handeln ab. Leben wir miteinander ein
geistlich überzeugendes und gesellschaftlich relevantes Christenleben? Ich
habe keine Angst um die Zukunft des christlichen Glaubens. Dass aber
unsere verfassten Kirchen dafür taugliche Gefässe bleiben, das ist nicht
garantiert.
Warum ist es eigentlich unpopulär, reformiert zu sein?
Wo Menschen reformierte Menschen und Gemeinden als
glaubwürdig und lebendig erleben, sind sie nicht unpopulär. Wo blosse Form
und Verkrustung herrschen, sind sie es zu Recht.
Wie sieht die reformierte St. Galler Kirche in 20 Jahren
aus? Bekommt sie noch Steuergelder, oder ist sie – wie heute bereits in
Genf – auf Spenden angewiesen?
Sie kann immer noch Steuern einziehen. Aber es wird
weniger Geld sein. Die Bedeutung von freiwilligem Engagement und von
Spenden wird steigen. Glaubwürdige, profilierte Christusgemeinschaft kann
man aber auch mit wenig Geld leben.
Die St. Galler Kirche wird im SEK-Papier als «innovativ»
bezeichnet. Muss der Schweizer Protestantismus sanktgallisch werden?
Die St. Galler Vision einer Kirche „nahe bei Gott – nahe
bei den Menschen“ legt den Schwerpunkt auf die Stärkung der lokalen
Programmarbeit: auf Relevanz, Qualität, Vielfalt und Innovation.
Reformierte Kirchen leben primär an der Basis. Sie haben weltweit
vielfältige lokale Ausprägungen, geprägt von den Menschen und
Lebensumständen vor Ort. Das erfordert Freiheit, Gestaltungsspielräume,
Selbstverantwortung – Einheit in der Vielfalt statt Einheitlichkeit,
theologischen Diskurs statt vereinheitlichter Dogmatik. Deshalb betrachten
wir gewisse zentralistische Tendenzen und reformierte
Profilierungsversuche im SEK mit Skepsis.
Dass die Feudalzeiten vorbei sind, scheint in den
reformierten Köpfen noch nicht angekommen.
Im Kanton St. Gallen sind wir uns die Minoritätsrolle
gewohnt. Nur ein Viertel der Einwohner ist reformiert. Interessanterweise
erleben sich gerade unsere Diasporagemeinden als besonders lebendig. Sie
mussten immer durch ihre Botschaft und ihr Leben überzeugen.
Die Erfahrung als Minderheit schweisst zusammen. Von
daher müsste der Schrumpfkurs auch positive Seiten haben.
Wenn uns das Schrumpfen zwingt, Christsein in
reformierter Vielfalt noch tiefer und glaubhafter zu leben, werden wir
morgen für die Menschen und die Gesellschaft in der Schweiz noch wichtiger
sein als heute.