Interview von Josef Osterwalder mit
Pfr. Dr. Dölf Weder,
St. Galler Tagblatt,
"Hintergrund", 30. Oktober 2003
Am Wochenende begeht
die Kirche den 486. Jahrestag der Reformation; zudem feiert sie in St.
Gallen dieses Jahr das 200-jährige Bestehen als Kantonalkirche. Was
steht am Sonntag im Vordergrund??
Ich bin ein Mensch, der vorwärts schaut. An Jubiläen und
Gedenktagen interessiert mich, was uns die Geschichte für den Blick nach
vorne lehrt; die Frage also, wie wir in die Zukunft hineingehen.
Und welches der beiden geschichtlichen Daten hilft
Ihnen nun mehr? Die Reformation oder die Gründung der Kantonalkirche?
Ich finde es gut, dass wir beides im Gepäck haben. Die
Herausforderung der Reformation bestand darin, dass sie an die Wurzeln
unseres christlichen Lebens zurückführte; dass sie die Frage stellt, was
denn nun Glauben und was Leben aus dem Glauben bedeutet. Bei der Gründung
der Kantonalkirche ging es um die Frage, wie man als Christ und als Kirche
mit einer konkreten geschichtlichen Situation umgehen konnte, mit einer
Situation, wie sie durch die Aufklärung und Revolution geschaffen worden
war.
Ein Fest mit zwei recht unterschiedlichen Polen
also?
In der Reformation, vor 486 Jahren, stand die
Radikalität des christlichen Glaubens im Vordergrund. Vor 200 Jahren, bei
der Gründung der Kantonalkirche, wurde die Rolle der Kirche in der
Gesellschaft neu bestimmt.
Reformatorische Radikalität des Glaubens hier,
Volkskirche dort. Da öffnet sich ein Spagat. Lädt eine Volkskirche, die
sich „reformiert“ nennt, die Kritik nicht geradezu auf ihr Haupt?
Kritik ist für mich eine Herausforderung, die man ernst
nehmen muss. Die uns weiterhilft. Auch wenn jemand wie Gandhi den Christen
vorwirft, ihr Handeln entspreche so gar nicht ihrem Bekennen. Kritik, die
uns an den Ansprüchen der Reformation misst, bringt uns weiter. Und hilft
der Volkskirche, in der heutigen gesellschaftlichen Situation ihren Ort zu
finden.
Das heisst, dass die Kirche nicht nur ein Fels in
der Brandung, sondern selbst von Unsicherheit heimgesucht ist?
Wir haben nicht einfach ein „Vermarktungsproblem“; wir
müssen uns auch selbst der radikalsten Frage aussetzen, der Frage nach
der „Radix“, unserer Wurzel nämlich, dem, wofür wir stehen.
Nochmals zum anderen Pol:
Nahmen die Reformierten mit der Gründung der Kantonalkirche im Jahre 1803
unwillkürlich auch das Erbe der Aufklärung in ihr Programm?
Ich würde differenzieren. Bei der Aufklärung ging es
nicht nur um eine theologische, sondern um eine umfassende
gesellschaftliche Frage. Wie nämlich der Mensch aus seiner selbst
verschuldeten Unmündigkeit zu befreien sei. Das hat die reformierte Kirche
unter anderen mit ihrem demokratischen Ansatz aufgenommen. Nicht zu
vergessen, dass die Revolution, die der Aufklärung folgte, an der
zentralen Funktion der Kirche ziemlich gerüttelt hat. Damals begann ein
Prozess, der sich bis in die heutige Zeit fortsetzt.
Ein Teil der reformierten Theologen scheint das
Programm der Aufklärung aber doch verinnerlicht zu haben; es führt sie hin
zur liberalen Theologie...
... aber gleichzeitig erwachte auch als Gegenpol
der Pietismus. Und zudem kam eine dritte Bewegung, die religiös-soziale
hinzu.
Es scheint, dass aber vor allem das Gegensatzpaar
liberal – pietistisch ihrer Kirche bis heute zu schaffen macht.
Das sehe ich nicht so. Ich denke der Gegensatz von
positiver und liberaler Theologie ist überwunden. Heute stehen eher
landeskirchliche und betont evangelikale oder gar fundamentalistische
Ausrichtungen einander gegenüber.
Und der Pietismus gehörte dann der evangelikalen
Richtung an?
Nein, nicht nur. Der Pietismus hat auch die
Landeskirchen und viele landeskirchlichen Bewegungen stark beeinflusst.
Ich schliesse mich da durchaus auch selber ein. Seine Betonung des
persönlichen Glaubens und der Christusbeziehung bleibt bis heute ein
wichtiges Anliegen.
Dann gäbe es also keine Abgrenzung zu den
evangelikalen Kreisen?
Eine Abgrenzung erfolgt dort, wo sich Gemeinschaften
selber ausgrenzen. Wenn Sie also behaupten, sie allein seien im Besitz der
Wahrheit.
Von aussen aber nimmt man das doch anders wahr; da
scheint der Graben zu den Freikirchen doch recht gross zu sein.
Das hängt stark von örtlichen Verhältnissen ab. Was mich
betrifft, so lebe ich ein entspanntes Verhältnis zu den Freikirchen. Es
besteht kein Anlass, Angst voreinander zu haben. Jeder reformierte Pfarrer
wird bei der Ordination direkt auf die Bibel verpflichtet. Da muss man
einander auch eine persönliche Art im Umgang mit der Bibel zugestehen. Wo
es, wie in der reformierten Kirche, keine Auslegungsautorität gibt, ist
aber das Gespräch wichtig, der theologische Diskurs.
Bei solcher Offenheit wäre zu erwarten, dass die
Landeskirchen auch etwas von den „Erfolgsrezepten“ der Freikirchen
übernähme.
Das tun wir auch. Wir haben zum Beispiel eine neue
Arbeitsstelle, die populäre Musik im Gottesdienst fördert, von Jodel bis
Rock. Da nehmen wir durchaus auch Erfahrungen aus der frei-kirchlichen
Praxis auf.
Dennoch scheint die
Landeskirche den schwierigeren Part zu spielen. Sie fühlt sich zu einem
Mittelweg verpflichtet; sie bemüht sich mit allen Kräften, allen alles zu
sein.
Das ist eine Frage, der wir uns stellen müssen. Wer
allen alles sein will, ist leicht niemandem viel. In einer pluralistischen
Gesellschaft müssen wir auch spezifische Angebote schaffen.
Durchschnittsangebote allein reichen nicht.
Heisst „Angebot“, dass man sich als
Dienstleistungsbetrieb versteht?
Das wäre ein Missverständnis; wir sind nicht nur eine
Dienstleistungs- sondern eine Mitgliedschaftsorganisation. Wir bestehen
aus vielfältigen, kurz- und längerfristigen Weggemeinschaften die
miteinander unterwegs sind.
Und doch haben Sie gerade die zentralen Dienste der
Kantonalkirche stark ausgebaut.
Diese Dienste sind einzig dazu da, die Gemeinden zu
befähigen, ihre eigenen Lösungen zu finden. Das Wesentliche ereignet sich
in der Gemeinde an Ort. Das heisst auch, dass jede Gemeinde eine je eigene
Entwicklung erlebt und dafür die Verantwortung trägt.
Und wem die Entwicklung in der eigenen Gemeinden
nicht passt?
Der braucht sich nicht zu scheuen, in der
Nachbargemeinde den Anschluss zu suchen. Vielfalt bereichert.
Ist Entwicklung aber nicht ein gefährlicher Begriff?
Sieht das nicht so aus, als ob der Glaube von unten wachsen und nicht von
oben eingegeben würde?
Zuweilen frage ich mich, ob unsere Probleme nicht damit
zusammenhängen, dass wir den Offenbarungsaspekt zu stark betont haben. Wir
haben den Glauben zu ausschliesslich als eine Bewegung von oben nach unten
gesehen. Dabei gibt uns Jesus doch ein anderes Beispiel. Für ihn war die
konkrete Situation des Menschen sehr wichtig. In dieser hat er ihn
angesprochen.
Das führt zum Programm Ihrer Kirche „nahe
bei Gott – nahe bei den Menschen“. Würde Jesus nicht den Menschen noch
radikaler in die Mitte stellen?
Gerade wenn es um den Menschen geht ist wichtig: Ich
kann den Mitmenschen dann ganz und vorbehaltlos annehmen wenn ich ihn mit
den Augen Gottes sehe, als liebenswerten und geliebten Menschen.
Und welche Herausforderung stellt sich nun der
Kirche für die Zukunft?
Wir müssen einsehen, dass wir unser früheres Monopol
verloren haben. Wir sind eine religiöse Ausrichtung neben vielen anderen.
Wir können dann bestehen, wenn wir eine klar erkennbare Identität haben,
wissen, worin unser Glaubens- und Lebensvollzug besteht und das in die Tat
umsetzen.
So steht am Ende doch wieder die radikale,
reformatorische Anfangsfrage?
Es geht tatsächlich darum Gottes Liebe zum Menschen
glaubhaft zu verkünden; seine Liebe auch zum schuldig gewordenen Menschen.
Und diesen dadurch zu ermutigen und zu befähigen, seinerseits den
Mitmenschen zu lieben.