Interview Peter Schmid
mit Kirchenratspräsident Dölf Weder im
Landeskirchen-Forum vom 23. Juni 2010
St. Gallen macht es vor: Die Kantonalkirche kann
Gemeindeentwicklung vielfältig fördern und den Boden für ein Wir-Gefühl
bereiten. Kirchenratspräsident Pfr. Dr. Dölf Weder stösst Schritte an
und begleitet die Arbeiten engagiert. Dem LKF schilderte er den Weg
seiner Kirche in den letzten Jahren und ihre Stossrichtung.
LKF: Welche laufenden Arbeiten und Projekte sind für
Sie bedeutsam und besonders zukunftsträchtig?
Dölf Weder: Besonders
spannend finde ich im Moment ein Dutzend Innovationsprojekte in
Kirchgemeinden unter dem Titel „Gemeindeaufbau durch lebendige
Gottesdienste“. Da werden mit vielen freiwilligen Mitarbeitenden und
neuen Musikformen lebendige Gottesdienste gestaltet, die viel zum
Gemeindeaufbau beitragen. Wir finanzieren den Gemeinden für 3 Jahre
zusätzliche Stellenprozente, um dies zu ermöglichen. An anderen Orten
finden Prozesse zum Thema „Familien- und Generationenkirche“ statt. Wir
übernehmen die Beratungskosten.
In der Synode diskutieren wir zurzeit ein ambitiöses
Konzept zur „Geistlichen Begleitung von
Kindern und Jugendlichen“. Es basiert auf den vier Säulen „Feiern –
Bilden – Begleiten – Erleben“, wobei das Erleben künftig einen deutlich
höheren Stellenwert erhalten soll. Junge Menschen sollen schrittweise
und ganzheitlich zu einem stimmigen Glaubens-, Gottesdienst- und
Gemeindeleben hingeführt werden.
Wie kam es dazu, dass die St.
Galler Kantonalkirche solche Arbeiten und damit den Gemeindeaufbau
insgesamt fördert?
Bei meinem Amtsantritt 2000 war ich erstaunt zu sehen,
dass sich unsere Kirche nicht wirklich fragte: Wer wollen wir sein und
in welche Richtung wollen wir gehen? Die Welt verändert sich aber rasch
und radikal. In dieser Situation muss man klar wissen und formulieren,
wer man ist und wie man dorthin kommt, wo man hin will. Der Kirchenrat
stellte sich der Herausforderung und startete das Projekt
‚St. Galler Kirche 2010‘. Entscheidend
war ein partizipativer Prozess mit allen Kirchenvorsteherschaften und
allen kirchlichen Berufsgruppen, gipfelnd in durch die Synode
beschlossenen Leitzielen 2010.
Als Kernpunkt kristallisierte sich die Vision einer
Kirche
„nahe
bei Gott – nahe bei den Menschen“ heraus. Wir wollen eine Kirche
mit klarer Identität sein, in der es um Gott, um Christus, um eine klare
Glaubensbeziehung geht. Und wir wollen nahe bei den Menschen sein, wie
sie eben leben. Das eine ist im christlichen Glauben nicht vom anderen
zu trennen – wie zwei Brennpunkte einer Ellipse. Sie können einen
Menschen nur wirklich verstehen, wenn Sie ihn im Licht Gottes sehen:
dass er geliebt ist und Vergebung braucht und trotz seines Fehlgehens
angenommen ist. Und Sie gehen an Gott vorbei, wenn Sie ihn nicht in
seiner Liebe, mit seinem Verlangen nach einer Beziehung mit den Menschen
und im Engagement für sie verstehen. Dass wir als Kantonalkirche diese
Grundausrichtung gemeinsam bestimmt haben, bis auf Stufe
Kirchenvorsteherschaften und Kirchgemeinden, ist unerhört wichtig. Sie
prägt unsere Kirche und gibt ihr programmatische Kraft.
Wie setzen Sie diese Grundausrichtung um?
Wir setzten mit den
Leitzielen 2010
Schwerpunkte und schufen zur Umsetzung neue
Arbeitsstellen in den Bereichen
„Familien und
Kinder“ und „Pastorales“.
Diese unterstützt Pfarrpersonen in der Gestaltung und Entwicklung von
Gottesdiensten. Ein Netzwerk und eine neue Arbeitsstelle
Junge Erwachsene entstanden. Um
nahe bei den Menschen zu sein, fördern wir neben der klassischen
Kirchenmusik verschiedene Musikstile, von Alpsteinkultur bis zu Rock und
Pop. Dazu wurde eine neue Arbeitsstelle
populäre Musik mit einem
Jazzmusiker geschaffen.
An unserer
Kirchenmusikschule
etablierten wir einen neuen Lehrgang mit dem Schwerpunkt populäre Musik
– die erste staatlich anerkannte Ausbildung für populäre Kirchenmusik in
der Schweiz. In der Zwischenzeit konnten wir für erfolgreiche
Absolventen bereits einen weiterführenden Zweijahreslehrgang starten.
Begleitend haben wir ein neues Kirchenmusikreglement eingeführt. Es
wertet die Kirchenmusik deutlich auf, setzt Qualitätsstandards und
fordert von unseren Kirchgemeinden die Förderung einer breiten Palette
von kirchenmusikalischen Stilrichtungen.
Prüfen Sie, ob das alles
erfolgreich ist? Korrigieren Sie Ziele auch?
2005 bis 2007 stand nach dem Willen der Synode eine
Evaluation an, kombiniert mit der bei uns alle 10 Jahre durchzuführenden
Visitation aller Gemeinden. Eine Umfrage, die quantitativ ausgewertet
wurde, viele Statistiken und Gespräche mit sämtlichen
Kirchenvorsteherschaften, mit Mitarbeitenden und Berufsgruppen führten
zu einem umfassenden Visitationsbericht, der
in einer Aussprachesynode diskutiert wurde. Auf der Basis dieser
Situationsanalyse beschloss die Synode unter dem Titel
‚St. Galler Kirche 2015‘ neue Leitziele
unter den drei Schwerpunkten:
- Auftrag und Vision vertiefen,
- Programmarbeit stärken: Qualität, Vielfalt und
Innovation,
- Lebendige Kirchgemeinden fördern, namentlich durch
Gemeindeentwicklung und Mitarbeiterförderung. In diesen Gebieten
müssen wir eindeutig noch besser werden.
Gemeindeentwicklung meint ein systematisches, zielorientiertes
Schaffen im Gemeindeaufbau und die Bildung von regionalen Kirchgemeinden
in Gebieten mit vielen Einzelgemeinden. Es geht primär um Programme und
optimalen Personaleinsatz, erst sekundär um Finanzen: Kleine
Kirchgemeinden sind eingeschränkt auf klassische Kirchgemeindearbeit
(das konnte man empirisch zeigen); sie können viel Notwendiges nicht
tun, weil ihr Fischteich zu klein ist. Zweitens können wir mit
Personalpools Mitarbeitende viel flexibler, interdisziplinärer und
gabenorientierter einsetzen.
Erhalten Gemeindepfarrer zusätzliche
regionale Aufgaben?
Nein, sondern wir fördern in Gebieten mit kleinen
Einzelgemeinden grössere Gefässe. 2 bis 4 Gemeinden schliessen sich
zusammen; das ergibt einen flexiblen Pool von 200 bis 400
Stellenprozenten und weit vielfältigere Programmmöglichkeiten.
Beispielsweise können dann statt vier männliche 100%-Pfarrer – mit je
beschränkter klassischer Kirchgemeindearbeit – auch auf dem Land
vielleicht drei voll- und teilzeitliche, männliche oder weibliche
Pfarrpersonen, eine Sozialdiakonin, ein Jugendarbeiter und ein
Popularmusiker mit Chor- und Bandarbeit beschäftigt werden.
Die Flexibilisierung ermöglicht einen ausbildungs- und
gabengerechten Einsatz von Angestellten. Natürlich fördern wir auch die
Freiwilligen. Die Mitarbeitenden wohnen möglichst dezentral in den
Dörfern und leisten dort auch Grundversorgung. Es ist ganz wichtig, dass
man in den sozialen Beziehungsnetzen bleibt, nicht die Post aus dem Dorf
heraus nimmt. Die Finanzen werden nicht gekürzt. Flexiblere Pools
könnten jedoch denkbare zukünftige Kürzungen sinnvoller auffangen als
einfach dem einzigen 100%-Pfarrer im Dorf das Pensum zu kürzen.
Ein Beispiel: Wenn ich in meiner Gemeinde etwas zur
religiösen Kindererziehung machen will, habe ich in einer 180
Mitglieder-Gemeinde schlicht nicht genug Eltern und Kinder dafür. Doch
in der Region – mit Eltern aus mehreren Gemeinden – funktioniert das
sehr wohl, erst noch unter Leitung der Person mit den bestmöglichen
Fähigkeiten für das Thema. Dazu braucht es allerdings die Entwicklung
eines regionalen Wir-Gefühls, sonst fahre ich nicht ins Nachbarsdorf.
Also nicht mehr: Ich muss vom Wir zum Ihr, sondern: Ich bewege mich im
Wir. Das sind ganz wichtige psychologische Elemente. Sie brauchen Zeit,
gezielte Arbeit und zuversichtliche Beharrlichkeit.
Wir vermeiden Zwang, arbeiten stattdessen mit
Anreizen. Wir haben kürzlich das Finanzausgleichsreglement revidiert.
Jede Fusionsgemeinde behält ihre jetzigen Personalprozente garantiert.
Wenn sie Schulden hat, tilgt die Kantonalkirche diese und garantiert
drittens bis 2015 erst noch einen niedrigeren Steuersatz. ‚Zuckerbrot
und Honig’ einsetzend, schufen wir für Kirchgemeinden bis 2015 ein
attraktives Zeitfenster mit vielen Vorteilen. Eine ganze Reihe von ihnen
hat die Chance denn auch begriffen. Sie wollen aus einer Position der
Stärke handeln, bevor sie durch neue Umstände zu fremdbestimmtem Handeln
gezwungen werden – seien das nun verminderte Finanzen oder das
Austrocknen der Kirchgemeindearbeit wegen fehlender Bedeutung für die
Menschen im Dorf.