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Interview von René Scheu mit Pfr. Dr.
Dölf Weder, Kirchenratspräsident, im
St. Galler Tagblatt
vom 2. Nov. 2006
Der Mensch hat eine Verantwortung, die er nicht
delegieren kann - auch nicht an Gott: Das ist für Dölf Weder,
Kirchenratspräsident der evangelisch-reformierten Kirche des Kantons St.
Gallen, die Essenz reformierten Denkens und Handelns. Diese moderne
Haltung droht die Kirche als Sinnstifterin überflüssig zu machen.
Gespräch zum Reformationssonntag im Zeitalter der
Patchwork-Religiosität.
Herr Weder, am Tag vor
Allerheiligen 1517 soll der Mönch Martin Luther an die Tür der
Schlosskirche zu Wittenberg 95 Thesen zu Ablass und Busse angeschlagen
haben. Aus der theologischen Provokation wurde die Reformation – was
bedeutet Ihnen der heilige Tag der Reformierten?
Dölf Weder: Mit heilig haben wir Reformierten
so unsere Mühe. (Lacht.) Der Reformationstag ist ein Gedenktag: Wir
gedenken der Reformation. Ich verbinde damit einen Aufbruch zu Freiheit
und Mündigkeit, zur Freiheit des Glaubens, aber auch zur Freiheit der
eigenen Lebensgestaltung – und zur Verantwortung.
Wie ist diese Freiheit theologisch begründet?
Weder: Luther, aber auch Zwingli und Calvin haben hervorgehoben, dass es
im Leben des Menschen um die Gnade Gottes geht. Modern ausgedrückt: Das
Gelingen des Lebens ist unverfügbar, hat Geschenkcharakter. Zu Gott und
zum Glauben findet man nicht durch religiöse Übungen, die Liebe lässt
sich nicht erzwingen, das Glück nicht kaufen, die Natur nicht letztlich
beherrschen. Das reformierte Denken ist gegen den Machbarkeitswahn des
Menschen gerichtet…
…diese Sicht der Dinge hat fatalistische Züge: Der Mensch wird zum
Spielball Gottes.
Weder: Nein. Das ist befreiend. Ich muss nicht alles selber müssen. Aber
ich trage als mündiger Mensch die Verantwortung für das, was in meine
Hand gegeben ist. Ich kann diese Verantwortung nicht an eine
übergeordnete Instanz delegieren, weder an Gott, noch an eine Kirche,
noch an die öffentliche Meinung.
Das Menschenbild, das Sie schildern, passt zu unserer auf
Individualität und Selbstverantwortung bedachten Gesellschaft. Warum
haben trotzdem immer mehr Menschen Mühe mit der Kirche?
Weder: Vielleicht ist genau diese Modernität ein Problem der
reformierten Kirche. Der Protestantismus hat unser aller Denken
entscheidend mitgeprägt. Es scheint uns nicht mehr so zu brauchen.
Individualismus führt zudem dazu, dass sich jeder seine eigene Religion
zusammenbastelt. Wir leben im Zeitalter der Patchwork-Religion.
Die katholische Kirche verfügt über eine stärkere institutionelle
Geschlossenheit. Könnte es nicht sein, dass die Menschen in einer
modernen Gesellschaft gerade einen solchen starken Halt suchen?
Weder: Das mag auf traditionelle Kirchgänger zutreffen. Jüngere
Generationen bekunden indes zunehmend Mühe mit jeder Art von Vorgaben.
Aber natürlich hat die katholische Kirche einen unbestrittenen Vorteil:
Sie ist sinnlich, warm, farbig. Manche Kirchenbauten vermitteln durch
ihre Malereien und Verzierungen den Hauch einer anderen Welt. Oder
nehmen Sie die Auftritte ihrer hohen Repräsentanten: Der Papst oder ein
Bischof in seinem schönen Gewand, das hat etwas Prächtiges,
Bedeutungsschweres. Davon fühlen sich nicht nur Katholiken angezogen.
Niemand hindert die Vertreter der reformierten
Kirche daran, sich besser in Szene zu setzen.
Weder: Das ist eine Diskussion, die wir immer wieder führen. Sollte ich
als Kirchenratspräsident im Zuge der zunehmenden Personalisierung in
Politik und Medien als eine Art reformiertes Pendant zum katholischen
Bischof auftreten? Nein. Das würde nicht zu unseren Überzeugungen
passen, die sich am Wort und an gemeinsamer demokratischer Verantwortung
orientieren.
Der Zweck heiligt die Mittel.
Weder: Glaubt man heute. Nur: Unseren demokratischen und
föderalistischen Geist über Bord zu werfen, um uns dem Zeitgeist
anzudienen, würde ich für einen grossen Fehler halten.
Fakt ist, dass sich die Kirchenaustritte
mehren und die Gottesdienste immer schlechter besucht werden.
Weder: Hierher gehört ein Satz bereits aus dem 16. Jahrhundert: ecclesia
reformata et semper reformanda, die reformierte Kirche ist eine immer
wieder neu zu reformierende Kirche. Reformation war kein einmaliger Akt
der Befreiung von kirchlichen Missbräuchen. Sondern sie ist die ständig
wiederkehrende Frage, was es auf der Grundlage von Bibel und
Christusgeschehen in der je konkreten geschichtlichen Situation
bedeutet, Christ zu sein. Wir können uns nicht auf den Lorbeeren einer
altehrwürdigen Institution ausruhen. Es gilt, mit den Menschen von heute
unterwegs zu sein und mit ihnen christlichen Glauben zu leben, mitten im
Alltag der Welt.
Was sagen Sie Menschen, die sich mit dem Gedanken eines Austritts
tragen?
Weder: Ich sage Ihnen: Wenn ihr keine Gottesdienste mehr besucht, so
kann ich das verstehen. Ich habe diesbezüglich manchmal auch
Schwierigkeiten. Aber überlegt euch gut, ob ihr – unabhängig von der
Glaubensfrage – längerfristig eine Gesellschaft ohne Landeskirchen
wollt. Sie haben eine wichtige Funktion in der Sensibilisierung für
Werte und Soziales in der Gesellschaft.
Die Frage ist vielleicht weniger, ob die Menschen für oder gegen ein
soziales Engagement sind. Die Frage ist eher, ob sie für ein soziales
Engagement mit oder ohne theologischen Hintergrund sind.
Weder: Diese beiden Aspekte lassen sich nicht trennen. Gottesbewusstsein
und das Bewusstsein für Gerechtigkeit gehören zusammen. Das eine gibt es
für mich nicht ohne das andere.
Im
Vorwort zum kantonalkirchlichen Amtsbericht 2005 schreiben Sie: „Wir
vertreten kein doktrinäres Wertemonopol mit Alleingültigkeitsanspruch,
sondern im christlichen Glauben wurzelnde Überzeugungen, die sich im
gesellschaftlichen Diskurs bewähren müssen.“ Wie engagieren sich die
Reformierten konkret als Christen heute?
Weder: Indem wir uns für die Schwachen einsetzen, von der pfarramtlichen
Hilfskasse über die kirchliche Sozialarbeit und die Arbeit an den
Schulen bis hin zu Privatinitiativen von reformierten
Kirchenmitgliedern. Wir engagieren uns aber auch gesellschaftspolitisch
und bringen uns in den öffentlichen Diskurs ein. In der Debatte über die
Streichung der Nothilfe bei Asylbewerbern mit
Nichteintretensentscheid oder in der
Asylgesetz-Abstimmung haben wir klar Position bezogen. In der ersten
Frage hatten wir Erfolg, in der zweiten wussten wir, dass unsere Haltung
in der Bevölkerung zurzeit nicht mehrheitsfähig ist. Doch wir
betrachteten es als unsere Pflicht, für die Würde jedes Menschen
einzustehen.
Einverstanden. Ansonsten mischt sich die Kirche aber kaum in
gesellschaftspolitisch relevante Diskussionen ein.
Weder: Das stimmt nicht. Beispielsweise hat unsere Arbeitsstelle für
Diakonie den internationalen Menschenhandel thematisiert, indem sie
Nachtclubmitarbeiterinnen, Regierungsrätin Karin Keller-Sutter,
Kirchenrätin Heidi Bär, Vertreter der Polizei und der Opferhilfe an
einen runden Tisch bat. Es wurden konkrete Massnahmen ausgearbeitet und
bereits implementiert.
Müsste sich die Kirche besser vermarkten?
Weder: Bisher haben wir auf die Fachkompetenz der Medien gesetzt und
gehofft, dass sie über unsere Anliegen berichten. In Zukunft wollen wir
einen aktiveren und umfassenderen Kommunikationsansatz pflegen.
Der Markt der Aufmerksamkeit ist hart umkämpft.
Weder: In der Tat. Wir wollen aber nicht um jeden Preis Aufmerksamkeit
erregen. Letztlich geht es um die Substanz. Unser Ziel ist es, Menschen
anzusprechen, die uns unterstützen und unsere Anliegen mittragen.
Dass sich die Kirche für die Schwachen
einsetzt, ist bekannt. Wieso setzt sie sich nicht einmal für die Starken
und Erfolgreichen ein, die unter einem spirituellen Defizit leiden? Das
wäre doch mal ein neuer Ansatz und auch PR-technisch interessant.
Weder: Die Ideologie, dass sich die Kirche nur für die Schwachen
engagieren soll, ist falsch. Beispielsweise ist uns das Pfarramt an der
Universität St. Gallen ein starkes Anliegen. Da geht es darum,
zukünftigen Leadern der Gesellschaft in ihrer Formungsphase, wie auch
der Professorenschaft, ein ernstzunehmendes Gegenüber zu sein. Markus
Anker macht das übrigens ausgezeichnet.
Und sonst?
Weder: Wir haben weitere Versuche in diese Richtung unternommen. Es ist
jedoch nicht leicht, vertieft mit Führungspersönlichkeiten zu arbeiten.
Aber ja, das ist ein interessanter Ansatz. Arbeitstitel für eine
mögliche Kampagne: „Business ist nicht genug: die Kirche sucht das
Gespräch mit Ihnen“. Ich werde darüber nachdenken.
Kommen wir auf die Gottesdienste zurück:
Wie wollen Sie Menschen unterschiedlicher Herkunft und unterschiedlichen
Alters wieder vermehrt dafür begeistern?
Weder: Mit Profil und Vielfalt. Wir müssen zielgruppenorientiert
arbeiten. Mit dem traditionellen Gottesdienst können nicht mehr alle
etwas anfangen. Gerade die urbanen Menschen sind pluralistisch und haben
verschiedenartige, aber stets hohe Ansprüche. Die Kirchkreise müssen
unterschiedliche Profile aufweisen: der eine vielleicht betont
ökumenisch und interreligiös offen, der andere intellektuell
anspruchsvoll, ein dritter eher evangelikal und ein vierter
jugendorientiert. Auch die Musik muss stimmen. Die Gottesdienstbesucher
können auswählen und wissen, was sie erwartet.
Die Gefahr der Beliebigkeit wächst.
Weder: Vielfalt ist nicht Beliebigkeit, Profil schon gar nicht. Wenn man
es in einem traditionellen Gottesdienst allen recht machen will, wirkt
das Ganze vielleicht beliebig – nicht aber, wenn man sich profiliert an
interessierte Menschen mit einer klaren Erwartungshaltung wendet. Wir
haben eine Botschaft zu verkünden und ihr bleiben wir treu, heute in
einer Vielfalt von Formen – ganz wie es unser Leitspruch sagt: „nahe
bei Gott – nahe bei den Menschen“.
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Mitten im
Leben
Was einst als altehrwürdige Institution galt, wird
heute oftmals als Bewahrerin längst überholter Traditionen wahrgenommen:
Der Kirche haftet im Urteil vieler Menschen etwas Verstaubtes,
Unzeitgemässes an. Dieses Urteil hat auch damit zu tun, dass die
Kirchensprache – Gnade und Vergebung, Sünde und Gebot – heute vielen
nichts mehr zu sagen hat. Wer mit dem evangelisch-reformierten
Kirchenratspräsidenten des Kantons St. Gallen spricht, spürt nichts von
diesem Jargon. Und auch nichts von Verstaubtheit. Für Dölf Weder steht
der Bezug zur Gegenwart im Zentrum des Denkens und Handelns. Die Kirche
habe immer wieder neue Antworten auf die Frage zu geben, was es heute
bedeute, Christ zu sein, sagt er.
Der 1950 geborene Weder unterstreicht seine Überlegungen mit lebhaften
Gesten . Sie werden bald durch nachdenkliche Pausen, bald durch
schallendes Lachen unterbrochen. Er macht keinen Hehl aus seiner Lust an
der intellektuellen Auseinandersetzung. Das Wort kommt für den
promovierten Theologen in bester protestantischer Manier an erster
Stelle. Weder ist keiner, der die Wahrheit verkündet, sondern einer, der
an seinem Tun und dem Tun seiner Kirche auch Zweifel hegt. Keiner, der
über die Moral doziert, sondern einer, der voll im Leben steht.
Bevor er im Jahre 2000 zum Kirchenratspräsidenten
gewählt wurde, hatte er als Generalsekretär des
Europäischen
CVJM Bundes (in der Schweiz
Cevi) Gelegenheit,
Europa und das Leben europäischer Jugendlicher genau kennen zu lernen.
Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde diese weltweite christliche
Jugendbewegung in über zwanzig Ländern Osteuropas neu oder wieder aktiv.
Weder hatte zusammen mit seinen über den ganzen Kontinent verstreuten
Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unter anderem die Aufgabe, für die
heute etwa 200'000 Jugendlichen und Leiter in Osteuropa Schulungen zu
organisieren und den Aufbau zu begleiten. (rs)
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Interview: René Scheu,
St. Galler Tagblatt
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Inhalt
Reformation
Freiheit und Verantwortung
Mediale Präsenz
Kirchenaustritte
Gesellschaftliches Engagement
Kirche bloss für die Schwachen?
Gottesdienste
Mitten im Leben
Der Individualismus führt dazu, dass sich jeder seine eigene Religion
zusammenbastelt.
Wir müssen zielgruppenorientiert arbeiten. Mit dem traditionellen
Gottesdienst können nicht mehr alle etwas anfangen. |