Vorwort zum Amtsbericht 2005 der
Evang.-ref. Kirche des
Kantons St. Gallen, Januar 2005
Pfr. Dr. Dölf Weder, Kirchenratspräsident
Die Kirche soll öffentlich
Stellung beziehen – und sie tut es
„Unser Auftrag als Volkskirche, ‚nahe bei Gott –
nahe bei den Menschen’, bezieht sich sowohl auf das Glaubensleben der
Menschen als auch auf die Gestaltung des gesellschaftlichen Alltags“,
schrieb ich im Vorwort zum
Amtsbericht 2004. Verschiedene Ereignisse im Jahr 2005 forderten
unsere Kirche in besonderem Mass zu Stellungnahmen heraus. Menschen,
Politiker aller Schattierungen und gesellschaftliche Entwicklungen
verlangten nicht politische Rezepte oder monologische Kanzelbelehrungen
von uns, aber immer vernehmbarer klare, auf dem christlichen Glauben
beruhende Worte zu grundlegenden Wertefragen der Gesellschaft. Unsere
Kirche schwieg nicht.
Im Frühjahr 2005 waren auch in unserem Kanton die Asylsuchenden mit
Nichteintretensentscheid ohne Bleibe und Sozialhilfe. Durch Parlamentsentscheide, durch das Votum eines Bundesrates
sowie durch das Verhalten verschiedener Kantonsregierungen wurde selbst
die in der Bundesverfassung garantierte und vom Bundesgericht bestätigte
Nothilfe im Sinne einer minimalen Überlebensgarantie ernsthaft in Frage
gestellt. Das Engagement vieler christlich geprägter Menschen und
Gremien, sowie öffentliche Stellungnahmen und
nicht-öffentliche Demarchen von Kirchenleitungen trugen wesentlich dazu
bei, dass zumindest dieser Bruch mit der christlich-humanistischen
Tradition der Schweiz abgewendet werden konnte. In den Augen der Kirchen
nicht akzeptable Verschärfungen des Asyl- und Ausländergesetzes und
deren konkrete Anwendung befinden sich aber weiterhin auf der
politischen Tagesordnung.
Christliche Überzeugungen
im gesellschaftlichen Dialog
Welchen Leitlinien eine der heutigen pluralistischen
Gesellschaft gerecht werdende Sonntagsruhe folgen soll, wie der
Menschenhandel mit Frauen im Tanz- und Sexgewerbe bekämpft werden kann,
aber auch wie sich Kinder, die keinen christlichen Religionsunterricht
besuchen, in der Schule und an Berufsschulen mit ethischen Werten
auseinandersetzen sollen, waren und bleiben weitere wichtige Themen, in
denen unsere Kirche sich im Dialog mit Anderen gesellschaftlich
engagiert. Wir vertreten dabei kein doktrinäres Wertemonopol mit
Alleingültigkeitsanspruch, sondern im christlichen Glauben wurzelnde
Überzeugungen, die sich im gesellschaftlichen Diskurs bewähren müssen.
Nicht zu vergessen ist natürlich in allen Themen die
wichtige Kleinarbeit, die tagein, tagaus in unseren Kirchgemeinden und
durch die kantonalkirchlichen Seelsorgedienste geleistet wird. Da werden die
grossen Scheine christlicher Grundwerte umgesetzt in die kleinen Münzen
des Alltags. Da erleben Menschen in Seelsorge, Schule und Gottesdienst
oder beim Seelsorgebesuch in der Ausschaffungshaft ein Aufblitzen
menschlicher und göttlicher Liebe.
Zu den zurzeit nicht so akuten, aber langfristig umso
wichtigeren gesellschaftlichen Entwicklungen gehört die Gestaltung des
Zusammenlebens unterschiedlicher Kulturen und Religionen in unserem
Kanton. Das bereichert uns. Das macht uns manchmal aber auch Angst.
Viele unserer Zeitgenossen, auch christliche, schieben das Thema
einfach auf die Seite oder glauben, es durch eine restriktive
Einwanderungspolitik beseitigen zu können. Aber es bezeichnet eine
Realität. Sich gegen das real existierende Fremde zu wehren, es
auszugrenzen und pauschal abzulehnen versuchen, ist keine Lösung. Wohin
das führt, zeigten die brennenden Vorstädte in Frankreich. Aber auch
sich als Fremde unter Seinesgleichen einzuschliessen und abzuschotten
versuchen, ist keine Lösung.
Hier in der Schweiz hat sich immer wieder das andere
durchgesetzt: Wir sprechen miteinander. Wir leben miteinander. Wir
diskutieren miteinander. Wir sind nicht immer gleicher Überzeugung. Aber
wir achten einander. Und wir begegnen einander mit Respekt. Nur darum
sind wir eine integrierte Gesellschaft. Nur darum sind wir es trotz
unserer wachsenden Vielfalt immer wieder geblieben. Nur diese Haltung
ermöglicht Frieden und Menschlichkeit in unserem Land und Kanton. Auch
für die Zukunft.
Die St. Galler Erklärung für
das Zusammenleben der Religionen
Unsere Kantonalkirche war aus diesen Gründen zusammen
mit Kanton, Stadt St. Gallen und anderen Religionsgemeinschaften im
September 2005 Mitträgerin der Interreligiösen Dialog- und Aktionswoche
(ida). Der Kirchenrat ist überzeugt, dass auch wir Evangelischen zu einem
Zusammenleben in Frieden und Mitmenschlichkeit einen wichtigen
Beitrag leisten können und leisten sollen. Wir
wollen uns engagiert für mitmenschliches
Zusammenleben und friedvollen Dialog einsetzen.
In diesem Zusammenhang beschloss der Kirchenrat, die „St. Galler Erklärung für das Zusammenleben der Religionen und den
interreligiösen Dialog“ mit zu unterzeichnen. Auch die Synode hat sie
nach ausführlicher Diskussion im Dezember 2005 zustimmend zur Kenntnis
genommen.
Ich selber bin überzeugt, dass interreligiöses
Zusammenleben und interreligiöser Dialog für uns Kirchen die grosse
Herausforderung des 21. Jahrhunderts sind. Genauso wie die
innerchristliche Ökumene die grosse – und bis heute noch nicht ganz
bewältigte – Herausforderung des 20. Jahrhunderts war.
Das ist aber nicht nur eine gesellschaftliche
Herausforderung. Dialog und friedvolles Zusammenleben sind ureigene
Anliegen jeden echten Christ-Seins.
Nach christlichem Glauben wurde Gott in Jesus Christus
Mensch. Gott wurde Mensch – und nicht bloss Christ. Jesus Christus wurde
damit zum Bruder aller Menschen und nicht bloss zum Bruder der Christen.
Auch das grosse Gebot der Menschenliebe, „Liebe
deinen Nächsten wie dich selbst“, spricht von unserem Nächsten, vom
Menschen neben uns – und nicht bloss von unserem Glaubensgenossen. Das
christliche Liebesgebot gilt unserem Umgang mit allen Menschen. Auch mit
jenen, die anders sind oder anders glauben als wir.
Heute sind für uns im Kanton St. Gallen Menschen aus
vielen neuen Kulturen und Religionen zu Nächsten geworden. Gerade auch
unser christlicher Glaube ruft uns auf, ihnen mit Liebe und Zuwendung zu
begegnen. Und ihnen das partnerschaftliche Gespräch anzubieten.
Dabei müssen wir unsere eigenen Überzeugungen weder
verstecken noch verleugnen. Im Gegenteil. Unsere ehrlichen
Überzeugungen, unser christlicher Glaube, sind gefragt im Gespräch
zwischen Mensch und Mensch. Aber solches Gespräch geschieht in Liebe,
Respekt und echter menschlicher Begegnung.
Vergessen wir gerade als Christen das Wort des
Apostels Paulus nicht: „Was bleiben wird, sind Glaube, Hoffnung und
Liebe, diese drei. Die grösste aber von ihnen ist die Liebe.“
In diesem Sinn und Geist dankt der Kirchenrat allen
Mitarbeitenden in der St. Galler Kirche für ihr Engagement und für ihr
auch im Berichtsjahr 2005 gelebtes christliches Zeugnis „nahe bei Gott –
nahe bei den Menschen“.
St. Gallen, im Januar 2006